FRAU, DIE SINGT, DIE | Incendies
Filmische Qualität:   
Regie: Denis Villeneuve
Darsteller: Lubna Azabal, Mélissa Désormeaux-Poulin, Maxim Gaudette, Rémy Girard, Abdelghafour Elaaziz, Allen Altman, Mohamed Majd, Nabil Sawalha, Baya Belal
Land, Jahr: Kanada 2009
Laufzeit: 133 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: G, D
im Kino: 6/2011


José García
Foto: Arsenal

Um den Zuschauer aufzurütteln, fährt der „Nahostkonflikt-Film“ zuweilen schweres emotionales Geschütz auf. Wie kann ein Konflikt auf die Kinoleinwand angemessen projiziert werden, für den es trotz unzähliger Friedensverhandlungen keine endgültige Lösung in Sicht zu sein scheint? So zeigte etwa Regisseur Hany Abu-Assad in dem mit dem Golden Globe ausgezeichneten Spielfilm „Paradise Now“ (2005, siehe Filmarchiv) schnörkel- und schonungslos die Innenansicht von palästinensischen Selbstmordattentätern. In „Paradise Now“ zweifelt die moralische Rechtfertigung solcher Terroranschläge eine junge Frau an. Gespielt wird sie von der als Tochter eines marokkanischen Vaters und einer spanischen Mutter in Belgien aufgewachsenen Schauspielerin Lubna Azabal.

Im nun anlaufenden Spielfilm „Die Frau, die singt“ („Incendies“) des frankokanadischen Regisseurs Denis Villeneuve verkörpert Lubna Azabal wiederum die aus dem vom Bürgerkrieg zerstörten Nahen Osten nach Kanada geflohene Nawal Marwan, deren traumatische Vergangenheit von ihren zwei Kindern erforscht wird. Unter dem eher harmlos klingenden deutschen Verleihtitel „Die Frau, die singt“ schildert Villeneuves Film eine Tragödie von wahrhaft griechischem Ausmaß.

Dass der 1967 in Québec geborene Regisseur Villeneuve in seinem auf mehreren Zeitebenen spielenden Film dem Zuschauer die Orientierung nicht leicht macht, belegen bereits die ersten Bilder: In einem dunklen Raum wohl mitten in der Wüste wird kleinen Jungen der Kopf kahlgeschoren. Sie werden offensichtlich für den Krieg bewaffnet. Die Kamera verharrt auf der Ferse eines dieser Jungen, auf der drei eintätowierte Punkte zu sehen sind. Dann folgt ein scharfer Schnitt. Im offensichtlich heutigen Québec sitzen die Zwillinge Jeanne (Mélissa Désormeaux-Poulin) und Simon (Maxim Gaudette) in der Kanzlei von Notar Jean Lebel (Rémy Girard), der das Testament ihrer Mutter Nawal Marwan eröffnet. Darin erteilt Nawal ihren Kindern einen Auftrag, der sie in Staunen versetzt: Jeanne und Simon bekommen zwei Umschläge ausgehändigt, die sie überreichen sollen – einen Brief für ihren tot geglaubten Vater und einen für ihren Bruder, von dessen Existenz sie gar nichts wussten. Lässt sich Simon vom letzten Willen seiner Mutter zunächst nicht berühren, so glaubt Jeanne, dass in diesem rätselhaften Erbe der Schlüssel zu Nawals Schweigen liegt, in dem sie die letzten fünf Jahre ihres Lebens verbrachte. Deshalb reist sie sofort in den Nahen Osten, um die unbekannte Vergangenheit ihrer Mutter zu erkunden. Ihr Weg führt Jeanne ins Heimatdorf ihrer Mutter, wo die junge Frau feststellen muss, dass sie als Tochter von Nawal Marwan kein willkommener Gast ist. Jeanne und Simon, der später auf Bitten seiner Schwester ebenfalls in den Nahen Osten reist, enthüllen nach und nach die Mosaiksteinchen der Geschichte ihrer Mutter, die mittels großartiger Schnitte in Rückblenden erzählt wird: Als junge Frau liebte Nawal einen Palästinenser, der aber von ihrer Sippe ermordet wurde, weil er deren Ehre verletzt habe. Nawal musste den gemeinsamen Sohn in ein Waisenhaus bringen und das heimatliche Dorf verlassen. In der Stadt geriet sie in Studentenunruhen und später ins Gefängnis, wo sie grausam gefoltert wurde. Die teilweise dokumentarisch anmutenden Bilder schockieren gerade deshalb, weil die Kamera die schrecklichsten Gräueltaten ausspart, die sich lediglich im Kopf der Zuschauer abspielen.

Manche Wendung im an das im Jahre 2003 in Montréal uraufgeführte gleichnamige Theaterstück von Wajdi Mouawad angelehnten, von Denis Villeneuve selbst verfassten Drehbuch mag sich insbesondere in der Schlussauflösung unglaubwürdig, ja beinahe unlogisch ausnehmen. „Incendies“ stellt sich jedoch als eine Parabel heraus, ja als ein böses Märchen über die tiefen Wunden der Gewalt, die kaum in einer Generation heilen, die über eines Menschen Leben hinaus Narben hinterlassen. So gesehen, folgt Villeneuves Film der unerbittlichen Logik der Gewalt.

„Incendies“ nennt Nawals Heimatland zwar nicht mit Namen. Manches, insbesondere der Konflikt zwischen Christen und Muslimen, weist aber auf den Libanon und den zwischen 1975 und 1990 tobenden libanesischen Bürgerkrieg. Dafür spricht ebenfalls, dass der Autor der Theaterstück-Vorlage Wajdi Mouawad 1968 im Libanon in einer wohlhabenden christlichen Familie geboren wurde, ehe er mit acht Jahren mit seinen Eltern nach Frankreich auswanderte und von dort 1983 nach Québec weiter zog. Letztlich spielt dies indes keine Rolle, weil „Incendies“ von Leid, Trauer und Hass, aber auch von Liebe und Versöhnung mit universeller Gültigkeit erzählt.

Dennis Villeneuves Film wurde für den Oscar 2011 in der Kategorie „Bester nichtenglischsprachiger Film“ nominiert. Darüber hinaus wurde „Incendies“ 2010 auf dem Filmfest Venedig in der Reihe „Giornati degli autori“ als Bester Film sowie beim Toronto Filmfestival als bester kanadischer Spielfilm ausgezeichnet.
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