EINE FAMILIE | En Familie
Filmische Qualität:   
Regie: Pernille Fischer Christensen
Darsteller: Lene Maria Christensen, Jesper Christensen, Pilou Asbæk, Anne Louise Hassing, Line Kruse, Coco Hjardemaal
Land, Jahr: Dänemark 2010
Laufzeit: 102 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: X
im Kino: 3/2011
Auf DVD: 7/2011


José García
Foto: Tobis

Im dänischen Film der letzten Jahre spielt die Reflexion über die Familie eine zentrale Rolle. Prangerte sie etwa Thomas Vinterberg in „Das Fest“ (1998) als ein Hort des Macht- und sexuellen Missbrauchs an, so kreisen Susanne Biers „Brothers – Zwischen Brüdern“ (siehe Filmarchiv) und insbesondere „Nach der Hochzeit“ (siehe Filmarchiv) um die Heilung einer durch äußere Umstände wie Krieg oder eine unheilbare Krankheit aus dem Lot geratenen Familie.

Diesem Sujet bleibt nun die dänische Regisseurin Pernilla Fischer Christensens in ihrem Spielfilm „Eine Familie“ („En Familie“) treu. In der titelgebenden Familie vereinen sich Tradition und Modernität. Die Familientradition gibt eine der kurzen Exposition folgende, aus Familienfotos und Amateuraufnahmen zusammengestellte Sequenz wieder. Die dazwischen montierten Texttafeln erzählen von der Familiengeschichte der Bäckerfamilie Rheinwald: Der Großvater des heutigen Inhabers wanderte mit nur einem Sack Getreide aus Deutschland nach Dänemark aus. Sein Sohn machte aus einer kleinen Kopenhagener Bäckerei ein florierendes Unternehmen, das unter dessen Sohn Rikard sogar zum Hoflieferanten aufstieg.
Dieses originelle Stilmittel, mit dem die Regisseurin eine umständliche Einführung in die Familienverhältnisse vermeidet, berichtet aber auch von der „modernen Patchwork-Familie“, als die sich die heutige Bäckerfamilie präsentiert: Das Familienoberhaupt und jetziger Bäckereieigentümer Rikard (Jesper Christensen) hat zwei erwachsene Töchter aus erster Ehe: Ditte (Lene Marie Christensen), eine erfolgreiche Galeristin, die mit ihrem Freund Peter (Pilou Asbaek) zusammenlebt, sowie Chrisser (Line Kruse). Nach der Scheidung von seiner Ehefrau, die im ganzen Film lediglich durch Telefonate, aber nie im Bild zugegen sein wird, lebt Rikard mit der deutlich jüngeren Sanne (Anne Louise Hassing) zusammen, mit der er zwei noch junge Kinder hat, die seine Enkel sein könnten: Line (Coco Hjardemaal) und Vimmer (Gustav Fischer Kjaerulff). Die Darstellung der Rheinwaldsippe als betont moderne Familie sei ihr besonders wichtig gewesen, führte Regisseurin Fischer Christensen bei der Präsentation ihres Filmes in Köln aus.

Zwei erfreuliche Nachrichten stehen am Anfang von „Eine Familie“: Ditte erhält einen Job in New York angeboten, womit ihr lang gehegter Traum in Erfüllung zu gehen scheint. Rikard bekommt einen Brief von der Klinik: Der Krebs scheint besiegt zu sein. Doch bald machen ihnen die Ereignisse einen Strich durch die Rechnung: Ditte wird schwanger. Weil ihr ein Kind und die neue Arbeit unvereinbar erscheinen, entscheidet sie sich für eine Abtreibung. Rikard seinerseits erleidet während einer Familienfeier einen Rückfall. Die Ärzte diagnostizieren einen unheilbaren Gehirntumor. So wird Dittes liebevolles Verhältnis zu ihrem Vater auf eine harte Probe gestellt: Soll sie ihren eigenen Lebenstraum verwirklichen oder sich den Wünschen ihres Vaters beugen und die Leitung der traditionsreichen Bäckerei übernehmen?

Die realistische, auf Authentizität zielende Inszenierung mit ausgiebigem Gebrauch der Handkamera an realen Drehorten, einem leicht elliptischen Schnitt und den warmen, hellen, natürlichen Farben erinnert an frühere dänische Filme, insbesondere an Susanne Biers „Nach der Hochzeit“. In der bereits erwähnten Präsentation führte Pernille Fischer Christensen dies auf den Stil der „Dänischen Schule“ zurück. Schließlich hätten Susanne Bier, Thomas Vinterberg und sie selbst an der „National Film School of Denmark“ zusammen studiert.

Unter der Oberfläche einer leichtfüßigen, von der beschwingten Filmmusik unterstützten Inszenierung entwickelt sich „Eine Familie“ nach und nach zu einem Drama: Die Farbgebung wird dunkler, die Musik von Sebastian Öberg melancholischer. Das Drama gipfelt in einem quälend langen Sterbevorgang, der so realistisch beschrieben wird wie in kaum einem Spielfilm, der sich an ein allgemeines Publikum richtet. Die intensiv inszenierte Szene mit der gesamten, um das Bett des Patriarchen versammelten Familie im minutelangen Schweigen prägt sich dem Zuschauer tief ins Gedächtnis. Auch die Tragik einer Abtreibung, die zunächst irritierend leicht genommen zu sein scheint, bricht sich an zwei Stellen Bahn. Auf leise, unaufdringliche Art erzählt „Eine Familie“ von den Schicksalsschlägen, die eine Familie trifft. Mehr mit Gesten als mit Worten werden die Reaktionen der Betroffenen verdeutlicht. Klug widersteht die Regisseurin der Versuchung, alles erklären zu müssen. So etwa, als sich Sanne energisch weigert, Rikard im Hause zu pflegen... und sie in der darauffolgenden Szene an der Haustür Rikards Ankunft aus dem Krankenhaus erwartet. „Eine Familie“ fügt der im Film häufig thematisierten Entscheidung zwischen Familie und Beruf, zwischen Selbstverwirklichung und Familientreue neue Aspekte hinzu.
Diese Seite ausdrucken | Seite an einen Freund mailen | Newsletter abonnieren