BAL – HONIG | Bal
Filmische Qualität:   
Regie: Semih Kaplanoglu
Darsteller: Bora Altas, Erdal Besikçioglu, Tülin Özen, Alev Uçarer, Ayse Altay, Özkan Akçay
Land, Jahr: Türkei / Deutschland 2010
Laufzeit: 103 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 6 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 9/2010
Auf DVD: 3/2011


José García
Foto: Piffl Medien

Eine so lange Bildeinstellung hat man im Kino der letzten Jahrzehnte selten gesehen. Unbeweglich bleibt das Bild mehrere Minuten auf der Leinwand, was zur Folge hat, dass der Zuschauer umso mehr auf die Geräusche achtet, auf das Rascheln und Knistern im unberührten Wald. Langsam bewegt sich ein Mann mit einem Esel aus dem Bildhintergrund kommend auf den Vordergrund zu. Er bindet ein Seil an einem Ast fest und klettert den riesengroßen Baum hoch. Endlich folgt ein Schnitt. Die in schwindelerregender Höhe hängende Kamera beobachtet nun den Mann von oben, wenn der Ast zu brechen beginnt, und dann der Mann hilflos weit über dem Boden in der Luft hängt. Zweiter Schnitt. Der Prolog, dessen Bedeutung sich erst viel später erschließen wird, ist zu Ende.

Denn im Mittelpunkt von Semih Kaplanoglus türkisch-deutscher Koproduktion „Bal – Honig“ steht der sechsjährige Yusuf (Bora Altas), der als Einzelkind mit seinen Eltern Yakup (Erdal Besikçioglu) und Zehra (Tülin Özen) in den waldreichen Bergen der Schwarzmeerregion im Nordosten der Türkei lebt. Yusuf begleitet oft seinen Vater, der als Imker seine Bienenstöcke hoch in den Bäumen befestigt, um den berühmten schwarzen Honig der Rize-Region zu ernten. Bei seinem Vater lernt Yusuf nicht nur die Geheimnisse der Natur. Wenn er mit ihm flüstert oder ihm aus dem Kalenderblatt laut vorliest, überwindet der Junge darüber hinaus das Stottern, das ihm in der Schule so sehr zu schaffen macht. Denn inzwischen ist Yusuf der einzige aus der Klasse, der von seinem Lehrer als Preis fürs Vorlesen noch keine rote Anstecknadel aus dem großen Glas auf dem Regal erhalten hat. Deswegen wird er von den anderen Kindern gehänselt. Weil auch die Mutter mit Yusufs Schweigen kaum zurechtkommt, bleibt der Vater Yusufs einzige Bezugsperson. Mit einem weiteren Detail verdeutlicht Regisseur Kaplanoglu das besondere Vater-Sohn-Verhältnis: Jeden Morgen lehrt der Vater das Glas Milch heimlich, das die Mutter Yusuf vorsetzt, er aber nicht trinken will.

Als ein unerklärliches Bienensterben die Gegend heimsucht, zieht Yakup los, um seine Bienenstöcke in einer schwer zugänglichen Gebirgsregion aufzustellen. Die Tage vergehen, und Yakup kehrt nicht zurück. Seine Frau versucht, Yusuf zu beruhigen. Der Junge spürt aber, dass seinem Vater etwas zugestoßen ist, bis die Befürchtungen von Yusufs Mutter zur Gewissheit werden.

Äußerlich geschieht nicht viel in „Bal – Honig“. Wegen der elliptischen Erzählstruktur des Filmes ist es schwer herauszufinden, ob die Filmzeit ein paar Tage oder ein paar Wochen umfasst. Die Betonung liegt aber nicht so sehr auf der Erzählung von Ereignissen als vielmehr auf der Beschreibung von Yusufs Kindheit. Dazu bedient sich Semih Kaplanoglu einer sehr poetischen Bildersprache. Die satten Farben und die Tiefenschärfe der Bilder, verbunden mit den langen Einstellungen, unterstreichen die Schönheit einer Stille, die man als Zuschauer förmlich zu hören meint. Was jedoch in „Bal – Honig“ wirklich zu hören ist, sind die Geräusche und Klänge der Umgebung, die eine kongeniale Tonspur bilden.

Die wenigsten Zuschauer werden sich fragen, wie solch auserlesene, wunderbar komponierte Bildschnitte in diesem völlig unzugänglichen Gelände möglich waren, was für Beschwernisse das Filmteam auf sich nehmen musste, um das für derartig hervorragend ausgeleuchtete Aufnahmen nötige Equipment dorthin zu bringen. Kaum jemand wird etwa bedenken, wie für die eingangs beschriebene Szene die Kamera in Position gebracht werden konnte. Und das ist gut so. Denn, um mit Goethe zu sprechen, der wahre Künstler vollbringt das Schwere mit Leichtigkeit. Semih Kaplanoglu nennt seine Bilderwelt „Spirituellen Realismus“. Der Ort, an dem sein Film angesiedelt ist, nimmt sich als Märchenlandschaft und bedrohlicher Ort zugleich aus, in dem die Menschen in schweren Bedingungen ihren Lebensunterhalt verdienen.

Wenn es „nur“ um schöne Bilder und eine auserlesene Tonspur ginge, könnte „Bal – Honig“ in einem Kunstmuseum statt im Kino bewundert werden. Aber Semih Kaplanoglu liefert außerdem eine wunderbare Vater-Sohn-Geschichte. In der Art, wie der türkische Regisseur von der Schönheit, aber auch vom Schmerz in der Kindheit erzählt, gleicht könnte „Bal – Honig“ den großen Filmwerken eines Majid Majidis („Kinder des Himmels“, „Die Farben des Paradieses“) oder auch eines Bahman Gohbadi („Die Zeit der trunkenen Pferde“). Tragen in diesen Filmen die Kinderdarsteller in besonderem Maße zur Authentizität bei, so trägt in „Bal – Honig“ der siebenjährige Bora Altas mit seinen großen, neugierigen Augen den Film über weite Strecken.

„Bal – Honig“ wurde mit dem Goldenen Bären und dem Preis der Ökumenischen Jury der Berlinale sowie mit dem Kamera- und Publikumspreis des Internationalen Filmfestivals Istanbul ausgezeichnet.
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