FORGETTING DAD | Forgetting Dad
Filmische Qualität:   
Regie: Rick Minnich, Matt Sweetwood
Darsteller: (Mitwirkende) Rick Minnich, Loretta Minnich, Lora Young, Justin Minnich, Pam Shields, Jan Emamian, Payman Emamian, Anne Minnich
Land, Jahr: Deutschland 2008
Laufzeit: 84 Minuten
Genre: Dokumentation
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 6/2010


José García
Foto: W-Film

In Zeiten moderner DNA-Analyse kann die biologische Vaterschaft mit fast hundertprozentiger Sicherheit nachgewiesen werden. Was aber, „wenn Dein Vater nicht mehr weiß, wer Du bist, ist er dann noch Dein Vater?“ Diese Frage stellte sich der Dokumentarfilmer Rick Minnich, nachdem sein Vater Richard nach einem Verkehrsunfall das Gedächtnis verlor. Zusammen mit seinem Mit-Autor Matt Sweetwood hat der Regisseur die Ereignisse seit dem Verkehrsunfall am 21. Mai 1990 filmisch rekonstruiert. Das Ergebnis ist der außergewöhnliche Dokumentarfilm „Forgetting Dad“.

Beim Unfall selbst scheint der damals 44-jährige Richard, abgesehen von leichten Prellungen, unverletzt geblieben zu sein. Ein paar Tage später klagt er jedoch über Kopfschmerzen. Er kann selbst einfache Tätigkeiten nicht mehr ohne fremde Hilfe ausführen. Dann, eine Woche nach dem Unfall, totaler Gedächtnisverlust: „Ich stand vom Bett auf, sah mich um und wusste nicht, wohin ich gehen sollte“, beschreibt Richard Minnich dieses Gefühl etwa ein Jahr später. Der Computerexperte wird alles, selbst das Kopfrechnen neu lernen müssen. Von nun an nennt er sich „New Richard“. Er beginnt ein neues Leben an der Seite einer neuen Frau, entfernt sich auch räumlich von seiner früheren Familie.

Richards ältester Sohn, der in Deutschland lebende Dokumentarfilmer Rick Minnich, möchte die ganze Geschichte enträtseln. Den Ausgangspunkt erläutert der Filmemacher selbst: „Ich wollte einen Film über die verblüffende Genesung meines Vaters machen, darüber, wie er sich erholt und ein neues Leben aufgebaut hat, trotz aller Schwierigkeiten, trotz der Amnesie.“ Deshalb begann er schon damals, sechs Monate nach dem Unfall, den Vater zu filmen und Interviews zu führen, etwa mit Richards zweiter Frau und weiteren Mitgliedern einer ausgedehnten „Pachtworkfamilie“. Eine achtzehn Jahre dauernde Spurensuche.

Im Laufe der filmischen Detektivarbeit kommen Rick einige Dinge recht merkwürdig vor. So etwa eine Bemerkung des „neuen Richard“ in einem Brief, er habe gerade neu das Alphabet zu schreiben gelernt. Wenn dem aber so ist, wie konnte er Jahre lang einen regen Schriftverkehr unterhalten? Rick erhält Einblick in die Krankenakte seines Vaters. Die von einem Gericht angeforderten ärztlichen Gutachten sagen eindeutig aus: Bei Richard lag keine organische Verletzung vor. Die Ärzte gehen vielmehr von einem psychischen Schaden, einem Trauma, aus.

Nach und nach entsteht das Bild eines Mannes, den Rick Minnich nicht als seinen Vater kannte: Der „alte Richard“ hatte Frauengeschichten und ständig wechselnde Jobs, schlug sogar seine Kinder und war in einen Bankenbetrugsskandal verwickelt. Der Gedächtnisverlust kam ihm also recht. War die Geschichte mit dem Datenbetrug, der zu seiner Entlassung führte, der Auslöser für das Trauma? Oder täuschte er gar den Gedächtnisverlust nur vor, um in seinem Leben einen Schlussstrich zu ziehen und neu anzufangen? „Forgetting Dad“ gibt dazu keine eindeutige Antwort. Rick Minnich: „Ich habe ein sehr ambivalentes Gefühl der Gedächtnisverlust-Geschichte gegenüber. Vor allem weiß ich nicht, ob ich an seine Version der Geschichte glaube. Aber irgendwas hat sich in seinem Kopf verändert. Was genau die Ursachen sind, ob es mit dem Autounfall zusammenhängt oder nicht, das werden wir wahrscheinlich nie wissen. Aber ich wollte diesen Zwiespalt, den Zweifel rüberbringen.“

Nicht nur im Beruflichen, auch im Privaten brach „der neue Richard“ mit seinem bisherigen Leben: Er ließ sich von seiner zweiten Frau scheiden und zog zusammen mit seiner zwanzig Jahre jüngeren Freundin nach Oregon. Etliche Jahre lang hatte Rick keinen Kontakt mehr zu seinem Vater. Dann aber trifft der Filmemacher den Entschluss: Er will ihn zusammen mit seinem Halbbruder Justin im fernen Oregon besuchen. Sie wollen endlich wissen, was wirklich geschah, und eine entscheidende Frage stellen: Ob er sich denn wirklich nicht an sie erinnern kann.

„Forgetting Dad“ wirkt über weite Strecken wie eine Familientherapie, die auch tiefe Wunden aufreißt. Etwa bei Ricks Schwester Jan, die beim Lesen des ärztlichen Gutachtens vor der Kamera ins Weinen ausbricht. Trotz des manchmal voyeuristischen Blicks gelingt es dem Filmemacher, seiner Spurensuche durch herkömmliche dokumentarische Mittel wie Archivmaterial, Interviews und Off-Kommentar, aber auch dank der Kameraarbeit von Axel Schneppat und der Filmmusik von Ari Benjamin Myers eine dramaturgische Struktur aufzudrücken.

Dass die entscheidende Frage offen bleibt, gehört ebenso zu den künstlerischen Mitteln eines Dokumentarfilmes, der trotz berührender Momente nicht auf Überwältigung des Zuschauers zielt. Ihm bleibt es überlassen, eine Antwort zu finden.
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