GANZE LEBEN LIEGT VOR DIR, DAS | Tutta la vita davanti
Filmische Qualität:   
Regie: Paolo Virzi
Darsteller: Isabella Ragonese, Micaela Ramazzotti, Sabrina Ferilli, Valerio Mastandrea, Elio Germano, Massimo Ghini, Mary Cipolla, Giulia Salerno, Tatiana Farnese
Land, Jahr: Italien 2008
Laufzeit: 117 Minuten
Genre: Komödien/Liebeskomödien
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: S +, X
im Kino: 3/2010
Auf DVD: 10/2010


José García
Foto: Movienet

Generation Praktikum war gestern. Heute muss der Universitätsabsolvent überhaupt froh sein, wenn er irgendeinen Job bekommt. Dies legt wenigstens der nach seiner Teilnahme an 14 internationalen Filmfestivals nun im regulären Kinoprogramm anlaufende Spielfilm „Das ganze Leben liegt vor Dir“ („Tutta la vita davanti“) des italienischen Regisseurs Paolo Virzi nahe.

Das ganze Leben steht vor Marta (Isabella Ragonese), nachdem sie eine Promotion in Philosophie mit der höchsten Note „Summa cum laude“ abgeschlossen hat. Allerdings muss die frischgebackene Akademikerin sehr bald feststellen, dass die (Arbeits-)Welt nicht unbedingt auf sie gewartet hat. Durch Zufall lernt Marta die kleine Lara kennen, die gemeinsam mit ihrer Mutter Sonia (Micaela Ramazzotti) einen Babysitter sucht.

Die Exposition erinnert an den amerikanischen Spielfilm „Nanny Diaries“ (siehe Filmarchiv) der auf unter dem Romantitel „The Nanny Diaries“ fiktionalisierten Tagebüchern basierte. Bekam in „Nanny Diaries“ Annie auf diese Weise einen Kindermädchen-Job in der besseren New Yorker Gesellschaft, so ist dies für Marta nur eine Zwischenstation. Denn Laras Mutter Sonia, die nachmittags in einem Callcenter am Rande Roms arbeitet, besorgt ihr dort einen Job in der Vormittagsschicht.

Im Callcenter lernt Marta eine ganz andere, eine geschlossene Welt mit sektenähnlichen Strukturen kennen: Jeden Morgen bringen sich die Telefonistinnen mit Motivationschoreografien, die Vertreter im Nebenraum mit Kampfgeschrei in Schwung. Allerdings werden nicht nur die erfolgreichen Anruferinnen respektive Verkäufer vor aller Augen gelobt und mit lächerlichen Sachpreisen ausgezeichnet, sondern genauso die Versager öffentlich erniedrigt, der Boss Claudio (Massimo Ghini) wie ein Guru vergöttert. Trotz anfänglicher Skepsis bekommt Marta jedoch bald Spaß am Job: Dort kann sie ihre kommunikativen Fähigkeiten und ihren Umgang mit Google einsetzen, um bald „Klassenbeste“ zu werden. Als sie aber dem Gewerkschaftler Giorgio (Valerio Mastandrea) einige Betriebsgeheimnisse verrät, und darüber hinaus persönliche mit geschäftlichen Differenzen vermischt werden, droht der (fiktiven) Firma „Multiple Italia“ das Aus.

Regisseur Paolo Virzi, der zusammen mit Franceso Bruni das Drehbuch auf der Grundlage des Tagebuchs „Il mondo deve sapere“ (Die Welt soll es wissen) der italienischen Schriftstellerin Michela Murgia verfasste, liefert eine bitter-süße Satire auf das Lebensgefühl junger Akademiker, die zumal nach einem Studium der Geisteswissenschaften mit einer ganz anders strukturierten Arbeitswelt konfrontiert werden, in die sie sich nur schwerlich integrieren lassen. Obwohl nicht ganz frei von Klischees, gelingt es den Drehbuchautoren indes, eine differenzierte Sicht dieses Kulturschocks zu vermitteln. So ist Marta zwar zunächst entsetzt, als sie feststellt, dass ihre Arbeitskolleginnen in den Pausen keinen weiteren Gesprächsstoff als die Neuigkeiten bei „Big Brother“ kennen. Im Gegensatz aber zu ihren ehemaligen Kommilitonen, die auf ihre ebenfalls unter ihrer „geistigen Würde“ stehenden Jobs herabschauen, versucht Marta das Beste aus der Situation zu machen. Sie schreibt sogar für eine Fachzeitschrift einen Aufsatz über „Heidegger und die Gruppendynamik in einem Callcenter“ – darin ebenfalls Annie in „Nanny Diaries“ ähnlich, die ihre Erfahrungen als anthropologische „Feldstudie“ schilderte.

Im Unterschied zum amerikanischen Spielfilm, der sein eigentliches Sujet bald aus den Augen verliert, um eine beliebige Liebesgeschichte in den Mittelpunkt zu stellen, bleibt „Das ganze Leben liegt vor dir“ konsequent bei seinem Thema. Dass dieses trotz des symbolischen Namens der Firma „Multiple Italia“ nicht als speziell italienisches Problem anzusehen ist, beweist etwa der hierzulande inzwischen sprichwörtliche promovierte Taxifahrer.

In seiner Inszenierung lockert Regisseur Paolo Virzi das erdenschwere Sujet mit ein paar leichtfüßigen Einlagen à la Bollywood auf. So beginnen direkt bei der ersten Szene die Passanten auf den Straßen Roms zu tanzen, die Busfahrt zur Arbeit verwandelt sich in eine Choreografie. Obwohl solche Einschübe den Film in die Länge ziehen lassen und darüber hinaus einige Szenen allzu freizügig geraten sind, überzeugt „Das ganze Leben liegt vor dir“ insbesondere durch seine vielschichtigen Figuren und die liebenswerten Schauspieler, allen voran die bezaubernde Isabella Ragonese als Marta.

„Das ganze Leben liegt vor dir“ gewann mehrere Zuschauer- und Kritikerpreise. Der Film wurde außerdem für den Preis der italienischen Filmakademie „David di Donatello“ in fünf Kategorien nominiert.
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