ANDULA – BESUCH IN EINEM ANDEREN LEBEN | Andula – Besuch in einem anderen Leben
Filmische Qualität:   
Regie: Fred Breinersdorfer, Anne Worst
Darsteller: (Mitwirkende): Hannah Herzsprung, Jiři Letenský, Otakar Vávra, Zita Kabátová, Ivan M. Havel
Land, Jahr: Deutschland 2008
Laufzeit: 90 Minuten
Genre: Dokumentation
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: G
im Kino: 10/2009


José García
Foto: Salzgeber

Sommer 1942: Obwohl in Europa der Krieg tobt, werden noch immer Spielfilme gedreht. Besonders beliebt sind in dieser Zeit Komödien, die der leidgeprüften Bevölkerung etwas Ablenkung bieten – nicht nur in Deutschland, wo beispielsweise Helmut Weiss bis kurz vor dem Kriegsende (Uraufführung: Januar 1945) mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle an „Die Feuerzangenbowle“ arbeitet. Auch in der von Nazi-Deutschland besetzten tschechischen Hauptstadt realisiert der bekannte Regisseur Otakar Vávra eine „kriegswichtige“ Komödie mit dem Titel „Ich komme gleich“.

Für eine der an den Dreharbeiten beteiligten Schauspielerinnen wird die Arbeit an dieser Komödie indes zu einer Tragödie: Anna Lekenstá, die in „Ich komme gleich“ eine burleske Hausmeisterin spielt, bangt um ihr Leben, während sie vor der Kamera die lustige Pförtnerin gibt. Denn nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich wurde ihr Ehemann verhaftet, sie selbst verhört und lediglich vorübergehend wieder freigelassen. Regisseur Otakar Vávra erinnert sich nach all den Jahrzehnten, dass sich in den Drehpausen hin und wieder bei ihr die Anspannung Bahn brach, so dass die Maskenbildnerin gerufen werden musste, um sich Anna Letenskás von Tränen verschmierten Gesichts anzunehmen.

„Andula“ – wie Anna Letenská bekannt war – wurde nach der letzten Klappe des Films ins Konzentrationslager Mauthausen eingeliefert, wo sie bald darauf ermordet wurde. Im Dokumentarfilm „Andula – Besuch in einem anderen Leben“ liefern Fred Breinersdorfer und Anne Worst ein Porträt der bekannten Theater- und Filmschauspielerin, wobei die Filmemacher insbesondere der Frage nachgehen, wer für dieses grausame Schicksal verantwortlich war.

Über Interviews – insbesondere mit dem inzwischen verstorbenen Sohn von Anna Letenská, Jiři Letenský, dem 1911 geborenen Otakar Vávra, sowie mit Ivan M. Havel, dem Neffen von Milos Havel, dem Produzenten von Andulas letztem Film – hinaus wenden die Regisseure zwei dramaturgisch relevante Kunstgriffe an. Zum einen setzen sie geradezu parallel zu Andulas Leben die Biografie eines der grausamsten Mörder im NZ-Unrechtsstaat, Reinhard Heydrich.

Darüber hinaus unternehmen sie dadurch eine „filmische Rekonstruktion der Emotionen unserer Hauptfigur durch eine Schauspielerin“ (Fred Breinersdorfer), dass Hannah Herzsprung Anna Letenskás Leidensweg in das KZ nachzeichnet. Dies hat mit dem üblichen Nachstellen von Szenen in Fernsehdokumentationen nichts gemeinsam. Hannah Herzsprung „besucht“ vielmehr ihre Schauspiel-Kollegin über die Zeit hinweg. Die von der Frisur noch unterstrichene, verblüffende Ähnlichkeit zwischen den beiden Schauspielerinnen erzeugt eine zusätzliche Spannung im dramaturgischen Konzept.

„Andula – Besuch in einem anderen Leben“ beleuchtet auf diese Art und Weise das ergreifende Schicksal der tiefgläubigen Katholikin und bekannten Theater- und Filmschauspielerin Anna Letenská.

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Mit Regisseur Fred Breinersdorfer und Schauspielerin Hannah Herzsprung führte José García folgendes Interview.

Wie haben Sie von Anna Letenská erfahren?
Fred Breinersdorfer: Kurt Rittig, ehemaliger Fernsehdirektor vom Südwestfunk, erzählte mir vor Jahren von ihr. Ihr Schicksal interessierte mich so sehr, dass ich ein Drehbuch für einen Spielfilm schrieb, das sich jedoch finanziell nicht realisieren ließ. Deshalb setzte ich mich mit Anne Worst in Verbindung, die eine sehr erfahrene Autorin für historische Stoffe ist, um einen Dokumentarfilm zu entwickeln. Wir reisten 2002 auf eigene Faust nach Prag, um vor Ort zu recherchieren. Wir interviewten den Sohn von Anna Letenská, Jiři Letenský, und Otakar Vávra, den Regisseur des Films „Ich komme gleich“, an dem sie bis zu ihrer Verhaftung mitwirte.

Für Hannah Herzsprung war es sicherlich Neuland. Hatten Sie vorher von Anna Letenská gehört?
Hannah Herzsprung: Nein. Aber als Fred Breinersdorfer mir davon erzählte, hat mich ihre Geschichte sofort persönlich sehr berührt. Je mehr ich mich mit ihr beschäftigte, etwa mit Ausschnitten aus ihren Filmen, desto deutlicher wurde es: Ich wollte den Film unbedingt machen.

Für einen Dokumentarfilm ist das Konzept außergewöhnlich, dass eine heutige Schauspielerin auf Letenskás Spuren wandelt.
Fred Breinersdorfer: Es ist etwas Neuartiges, dass die Off-Stimme ins Bild tritt. Dadurch sieht sie der Zuschauer, er schaut ihr ins Gesicht. Obwohl sie immer Hannah bleibt, ist sie an Anna Letenskás Schicksal emotional beteiligt. Dies wird dadurch unterstrichen, dass die Kamera Hannah Herzsprung immer sehr nah folgt, dass ihr minimalistisches Spiel häufig in Großaufnahmen zu sehen ist. Das Konzept wurde übrigens sehr dialogisch entwickelt. Es ist das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen Hannah und mir.

Hannah Herzsprung: Ich fand es sehr spannend, dass der Zuschauer durch eine junge Schauspielerin Anna Letenskás Weg miterleben kann. Wir haben lange darüber diskutiert, wie es aussehen soll, ob ich mit ihr verschmelzen sollte, oder aber lieber Hannah bleibe, eine heutige Frau, die sich für sie interessiert, die sich mit ihr auseinandergesetzt hat, und daraufhin den Weg geht, den sie zum Schluss gegangen ist.

Wie sind Sie auf Pergolesis „Stabat Mater“ als Musik für den Abspann gekommen?
Fred Breinersdorfer: Das Stück passt zur Filmmusik insofern, als diese von Christoph Küstner stammt, dem Kirchenmusiker an der Apostelkirche Leipzig. Insgesamt haben wir wenig Musik eingesetzt. Sonst haben wir auf die Einfärbung der historischen Bilder geachtet: bläulich, wenn die Bösen ins Bild kommen. Wenn die Guten zu sehen sind, werden die Farben wärmer.

Dadurch werden sie aber auch manipulativ ...
Fred Breinersdorfer: Ich drehe zwar keinen Propagandafilm, aber ich habe eine Haltung, die sich filmisch ausdrücken muss. Gerade bei einem solchen Stoff kann der Regisseur keinen „neutralen“ Standpunkt beziehen. Es wäre kein guter Film geworden. Wenn der Film die Haltung des Filmemachers erkennen lässt, kann sich der Zuschauer damit auseinandersetzen.
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