TEN | Ten
Filmische Qualität:   
Regie: Abbas Kiarostami
Darsteller: Mania Akbari, Amin Maher, Kamran Adl, Roya Arabashi, Amene Moradi
Land, Jahr: Frankreich / Iran 2002
Laufzeit: 94 Minuten
Genre: Komödien/Liebeskomödien
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: D


JOSÉ GARCÍA
Foto: Alamode Film

Der iranische Film ist längst aus dem Schatten des „Insidertipps“ herausgetreten. Zu seiner größeren Bekanntheit trug in besonderem Maße Abbas Kiarostami bei, der seit dreißig Jahren Spielfilme dreht und deshalb als der Doyen des iranischen Kinos angesehen wird. Die Auszeichnung von Kiarostamis „Der Geschmack der Kirsche“ mit der Goldenen Palme bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 1997 verlieh dem iranischen Film insgesamt einen deutlichen Verbreitungsschub, der bis heute anhält.

„Der Geschmack der Kirsche“ handelte von Leben und Tod, aber auch vom Unterwegssein: ein Mann mittleren Alters fährt durch die Außenviertel Teherans auf der Suche nach jemandem, der sein bereits ausgehobenes Grab zuschaufelt – falls er sich entschließt, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Kiarostamis nächster Film „Der Wind wird uns tragen“ (1999) setzte dieses Sujet fort: ein Geschäftsmann wird in ein Dorf geholt, um die Beerdigung einer alten Frau ausrichten, die im Sterben liegt. Da die Frau jedoch nicht so schnell stirbt, wie es zunächst den Anschein hatte, steigt er immer wieder ins Auto ein, um eine Stelle zu finden, wo er mit seinem Handy telefonieren und seinen Geschäften nachgehen kann.

Das Autofahren nimmt in diesen letzten Filmen Kiarostamis eine zentrale dramaturgische, aber auch symbolische Stellung ein: nicht im Ziel, sondern im Weg soll das Glück gefunden werden. Nun hat der iranische Regisseur das Stilmittel des Unterwegs-im-Auto-Sein konsequent zu Ende geführt: sein aktueller Film „Ten“, der am offiziellen Wettbewerb in Cannes 2002 teilnahm und nun im deutschen Kino startet, spielt ausschließlich im Auto: eine junge Mutter fährt ihren Sohn zum Schwimmbad, während sich beide lautstark streiten. Die in der Mitte des Armaturenbretts montierte Kamera zeigt lediglich die Fahrerin oder den Beifahrer.

Nachdem sie ihren Sohn abgesetzt hat, nimmt die Fahrerin auf ihrer weiteren Fahrt durch die Stadt (offensichtlich Teheran) nacheinander ihre Schwester, eine Freundin sowie fremde Frauen mit. Jedes Mal, wenn die Beifahrerin wechselt, beginnt eine neue Episode – bis die zehn Kapitel von unterschiedlicher Dauer komplett sind, auf die der englische Titel „Ten“ anspielt. Ob die mit ihrer jeweiligen Beifahrerin geführten Gespräche über Ehe und Ehescheidung, über Familie und Kindererziehung, über Mann-Frau-Beziehungen bis hin zu deren Perversion in der Prostitution sowie über Religionsausübung den wirklichen Zustand, das Lebensgefühl der Frau im allgemeinen oder eher der „oberen Zehntausend“ in Iran widerspiegelt, erfährt der Zuschauer nicht. Zum Nachdenken indes regt ihn „Ten“ jedenfalls an, auch wegen seiner eigenwilligen Form.

Mit den Filmwerken anderer iranischer Regisseure – etwa mit Bahman Ghobadis Spielfilmdebüt „Die Zeit der trunkenen Pferde“ (2000) und mit Mohsen Makhmalbafs „Reise nach Kandahar“ (2001) – teilt „Ten“ eine stark dokumentarische Wirkung. Aber Kiarostami erweist sich als der radikalere Regisseur: obwohl die Filme Makhmalbafs und Ghobadis den Anschein einer Dokumentation durchaus erwecken, bedienen sie sich doch eines fertigen Drehbuchs. Demgegenüber geht Kiarostami nach dem Prinzip vor, das er selbst „das Verschwinden der Regie“ nennt: der Regisseur arbeitet das Drehbuch kaum aus, gibt seinen Laiendarstellern lediglich allgemeine Anweisungen, damit sie ihre Dialoge improvisieren. Der Regie-Altmeister fasst diesen beinah experimentellen Stil so zusammen: „Dieser Film wurde geschaffen, ohne wirklich geschaffen worden zu sein. Dennoch ist er keine Dokumentation. Weder eine Dokumentation noch ein durchfabrizierter Film. Vielleicht steht er irgendwo in der Mitte zwischen diesen beiden Formen.“

Dieses „Drehbuch in progress“ erweist sich jedoch nicht als das einzige Element in „Ten“, das der klassischen Filmsprache zuwiderläuft. Auffällig ist vor allem die unbewegte Kamera mit deren langen Einstellungen: die Eingangssequenz etwa zeigt mehr als eine Viertelstunde lang den heftig gestikulierenden und sich mit seiner Mutter streitenden Jungen in einem beinahe unbeweglichen Bild mit lediglich zwei, drei kaum merklichen Schnitten.

Daraus resultiert, was Abbas Kiarostami selbst als Minimalismus bezeichnet. Zu dieser filmischen Abstraktion führt der iranische Regisseur aus: „Ich glaube an eine Art Kino, das dem Zuschauer größere Möglichkeiten bietet und ihm mehr Zeit gibt. Ein Kino, das nur eine Hälfte kreiert, ein unvollständiges Kino, dessen zweite Hälfte der schöpferische Geist des Zuschauers selbst gestalten muss.“ In den „Mainstream“ lassen sich deshalb Abbas Kiarostamis Filme kaum einordnen. Anregend sind sie allerdings allemal.
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