HALS DER GIRAFFE, DER | Le cou de la girafe
Filmische Qualität:   
Regie: Safy Nebbou
Darsteller: Sandrine Bonnaire, Claude Rich, Louisa Pili, Darry Cowl, Philippe Leroy, Maurice Chevit, Monique Mélinand
Land, Jahr: Frankreich/Belgien 2004
Laufzeit: 84 Minuten
Genre: Familienfilme
Publikum:
Einschränkungen: --
im Kino: 8/2006
Auf DVD: 3/2008


José García
Foto: Schwarz-Weiss Film

Späte Vergangenheitsbewältigung gibt es nicht nur im realen Leben, etwa eines Literaturnobelpreisträgers. Auch im Kino spielt die Aufarbeitung einer jahrzehntelang verdrängten Wahrheit eine bedeutende Rolle. So machte sich etwa in „The Straight Story – Eine wahre Geschichte“ (David Lynch, 1999, siehe Filmarchiv) der 74-jährige Alvin Straight auf eine 560 km lange Reise auf einer uralten Mähmaschine auf, um sich mit seinem Bruder zu versöhnen, mit dem er sich viele Jahre zuvor entzweit hatte. Ähnlich begab sich der plötzlich in den Ruhestand entlassene Warren Schmidt in „About Schmidt“ (Alexander Payne, 2003, siehe Filmarchiv) auf eine Reise, deren Höhepunkt in der Vergebung eines Jahrzehnte zurückliegenden Fehltritts seiner verstorbenen Frau bestand.

In seinem Spielfilmdebüt „Der Hals der Giraffe“ („Le cou de la girafe“) erzählt Regisseur Safy Nebbou ebenfalls von einer Reise auf der Suche nach der Vergangenheit. Der Auslöser der Reise ist in diesem kleinen großen französischen Film die aufgeweckte neunjährige Mathilde (Louisa Pili), die mit ihrer alleinerziehenden Mutter Hélène (Sandrine Bonnaire) zusammen lebt. Beim Spielen hatte sie zufälligerweise einen Packen ungeöffneter Briefe von ihrer Großmutter an den Großvater Paul (Claude Rich) entdeckt. Bei einem Besuch im Altersheim erfährt sie nun, warum Paul die Briefe nie geöffnet hat: Seine Frau verließ ihn und ihre Tochter Hélène vor dreißig Jahren wegen eines anderen Mannes. Auf diese Weise wollte er die späteren Versuche von Mathildes Großmutter unterbinden, wieder Kontakt zur Familie zu knüpfen.

Mathilde, die von ihrer Mutter immer gehört hatte, ihre Großmutter sei gestorben, weiß nun, dass die Oma lebt. Kurz entschlossen ergreift die Neunjährige die Initiative: Sie holt mitten in der Nacht ihren Großvater aus dem Altersheim. Beide fahren im TGV nach Biarritz, wohin die Großmutter vor drei Jahrzehnten mit ihrem Liebhaber floh. Als sie von Hélène eingeholt werden, sehen sich Vater und Tochter mit der Aufarbeitung einer Lebenslüge konfrontiert, die über die Frage der Vergebung führt.

Zwar spielt in dieser Geschichte der Großvater die entscheidende Rolle, aber Regisseur Safy Nebbou inszeniert sie konsequent aus der Perspektive der kleinen Mathilde, auf deren Augenhöhe sich die Kamera bewegt. Eine folgerichtige Entscheidung, denn die Aufarbeitung des so lange Zeit Verdrängten geht auf ihr resolutes Handeln zurück.

„Der Hals der Giraffe“ überzeugt nicht nur wegen der drei Hauptdarsteller. Darüber hinaus ist der Film bis in die Nebenrollen gut besetzt, wie etwa eine kleine Nebenhandlung zeigt, als im Altersheim ein Bewohner und ehemaliger Polizist seine ganzen Künste aufbietet, um Pauls Flucht so lange wie möglich gegenüber der Heimleitung zu verschleiern.

Mit scheinbarer Leichtigkeit inszeniert Safy Nebbou in angenehm ruhigem Erzählrhythmus eine Mischung aus komischen und melancholischen Elementen. Dazu erläutert der Regisseur: „Meine Inszenierung sollte eigentlich unsichtbar sein. Sie erlaubt, direkt ins Universum der Figuren einzudringen. Das Theater hat mir den Blickwinkel der Schauspieler gegeben, meine größten Emotionen als Zuschauer sind oft mit den Schauspielern verbunden“.

Dieser Rhythmus wird auch von der Musik Pascal Caignes unterstrichen. Laut Regisseur „musste die richtige Klangfarbe gefunden werden, indem man vermied, den Film zu sehr ins Kühle oder zu sehr ins Pathetische zu ziehen. Pascal hat ein gutes Universum geschaffen, etwas melancholisch, aber sehr zurückhaltend.“ Darüber hinaus trägt auch die raue, schöne Landschaft der Atlantikküste und der Pyrenäen dazu bei, die Aufarbeitung der Vergangenheit durch Paul authentisch darzustellen.
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