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JOSà GARCÃA In der Filmografie des als Sohn einer italienischen Einwanderer-Familie im Garment District von New York aufgewachsenen Martin Scorsese spielt seit dreissig Jahren die Stadt New York eine dominierende Rolle. Davon zeugen Klassiker wie âHexenkesselâ (âMean Streetsâ, 1973), âTaxi Driverâ (1976) und âNew York, New Yorkâ (1977). Waren diese frühen Filme im zeitgenössischen New York angesiedelt, so machte Scorsese vor zehn Jahren einen Sprung in die Historie, als er Edith Whartons Roman âThe Age of Innocenceâ verfilmte: âZeit der Unschuldâ (1993) â eine dieser seltenen Literaturverfilmungen, die weit besser als ihre Vorlage gelingen â erzählt eine Geschichte von Liebe und Verzicht in der High Society des New York von 1870. Neben der eigentlichen Handlung steht die entscheidende Phase des Wachsens der Stadt im Mittelpunkt des Filmes. Ein Jahrzehnt später hat Scorsese mit Drehbuch-Mitautor Jay Cocks, Chef-Kameramann Michael Ballhaus, Produktionsdesigner Dante Ferreti, Cutterin Thelma Schoonmaker und Darsteller Daniel Day-Lewis fast das gesamte Team von âZeit der Unschuldâ wieder versammelt, um einen Film zu drehen, der in derselben Zeit (1863) spielt, jedoch nicht gegensätzlicher sein könnte. Räumlich kaum entfernt von der eleganten Welt aus âZeit der Unschuldâ ist der neue Scorsese-Film âGangs of New Yorkâ in einer der ärmsten Gegenden Amerikas angesiedelt: Das Viertel um den Platz, in den fünf Gassen mündeten und deshalb die âFive Pointsâ genannt wurde, war Anziehungspunkt für die Unterwelt und Schauplatz für die Kämpfte rivalisierender Gangs um die Vorherrschaft auf den Strassen. Damit sich der Zuschauer vergewissert, dass âGangs of New Yorkâ in derselben Stadt und an demselben Ort wie âZeit der Unschuldâ, zeigt ihm Scorsese kurz aufblitzende Bilder aus dem eleganten New York. Die Handlung von âGangs of New Yorkâ ist schnell erzählt: Amsterdam Vallon (Leonardo DiCaprio), ein junger irisch-amerikanischer Einwanderer, kehrt nach sechzehn Jahren in einer Erziehungsanstalt in den Five-Points-Distrikt zurück, um sich an William Cutting genannt âBill The Butcherâ (Daniel Day-Lewis) zu rächen, der 1846 Amsterdams Vater, den irischen Bandenführer âPriestâ Vallot (Liam Nesson) erschlagen hatte. Einen Kontrapunkt zu den Bandenkämpfen an den âFive Pointsâ bildet der amerikanische Bürgerkrieg, während dessen es zu den so genannten âDraft Riotsâ vom Juli 1863 kam, als die New Yorker gegen die Einberufung in die Armee einen dreitägigen Aufstand probten, der blutig niedergeschlagen wurde. Keine Frage: Scorsese und sein Team liefern ein gewaltiges Bild eines noch nie auf der Leinwand gesehenen New Yorks mit seinen ärmlichen Mietskasernen, unterirdischen Behausungen, Kaschemmen und Bordellen. Das grandiose Bühnenbild, die schwindelerregenden Kamerafahrten, das nuancierte Spiel Daniel Day-Lewisâ, der mit dieser Rolle für den Oscar als âBester Hauptdarstellerâ nominiert wurde â obwohl âGangs of New Yorkâ als den eigentlichen Hauptdarsteller Leonardo DiCaprio nennt. Diese Leistungen sollen keineswegs geschmälert werden. Für ein âMeisterwerkâ, wie manche Kritiker den Film genannt haben, reichen sie indes kaum, zu schwer wiegen die Positionen auf dem Negativkonto: Die Bilder sind nicht nur gewaltig, sondern zelebrieren eine hyperrealistische Gewalt, die brutaler in einem âMainstreamâ-Film kaum anzutreffen sein dürfte; die weibliche Figur Jenny (Cameron Diaz) erweist sich allzu deutlich als Versuch, in diese reine Männerdomäne ein hübsches Gesicht einzufügen und zum reichlich gebotenen Crime noch etwas Sex zu liefern. Dem Schnitt ist darüber hinaus die jahrelange Auseinandersetzung zwischen Produzenten und Regisseur anzusehen: Aus dem vierstündigen Streifen, den Scorsese ursprünglich montiert hatte, ist ein Film mit zweieinhalb Stunden Länge geblieben. Die durch diese Kürzungen entstandenen Sprünge und Lücken sind vor allem in der zweiten Hälfte von âGangs of New Yorkâ offensichtlich. Besonders infam nehmen sich die religiösen Bezüge des Filmes aus, angefangen bei der Figur des âPriestâ Vallon â von dem der Zuschauer nie erfährt, ob es sich um einen tatsächlichen Priester oder ob es sich bei âPriestâ lediglich um einen Beinamen handelt â, der das Gebet zum Erzengel Michael für seinen Bandenkrieg instrumentalisiert, bis zur Parallelmontage von den Vorbereitungen zum grossen Gemetzel, bei denen die Krieger ihren Hass in die äussere Form von Gebeten giessen. Im Grunde verwandelt der Film sämtliche religiösen Symbole in primitive Glücksbringer für einen ebenso atavistischen Kampf. Salman Rushdie hat âGangs of New Yorkâ den Gegenentwurf zu Tolkiens âDer Herr der Ringeâ genannt: Im Gegensatz zum Tolkiens âUniversum moralischer Absolutaâ entwerfe Scorseses Film einen Hexenkessel moralischer Ambiguität, in dem gut und böse nahezu irrelevant seien. Scorseses amoralische Allegorie auf die Geburt Amerikas stösst durch ihre brutal-zynische Darstellung vollkommen ab. |
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