GHETTO | Ghettoi
Filmische Qualität:   
Regie: Audrius Juzenas
Darsteller: Heino Ferch, Sebastian Hülk, Erika Marozsán, Vytautas Sapranauskas, Andrius Zebrauskas, Maragrita Ziemelyte, Alvydas Slepikas, Jörk Lamprecht
Land, Jahr: Deutschland/Litauen 2005
Laufzeit: 110 Minuten
Genre: Historische Filme
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: G, X
Auf DVD: 11/2006


JOSÉ GARCÍA
Foto: Stardust

In Roman Polanskis „Der Pianist“ (siehe Filmarchiv) war die beklemmende Enge und die Armut im Warschauer Ghetto förmlich zu spüren. Die Frage der jüdischen Polizei spielte für Polanski eine Nebenrolle: Die Ambivalenz dieser unter der Ghetto-Bevölkerung verhassten Kollaborateure kam etwa dadurch zum Vorschein, dass ein solcher Polizist einerseits sogar mit einem SS-Mann über das Schicksal der Deportierten witzelte, andererseits aber Wladimir Szpilman sein Überleben dem Einsatz eines jüdischen Ghettopolizisten verdankte.

Prominent mit dem deutschen Schauspieler Heino Ferch besetzt, nimmt dagegen im deutsch-litauischen, auf dem gleichnamigen Theaterstück von Joshua Sobol basierenden Spielfilm von Audrius Juzeas „Ghetto“ der Chef der jüdischen Polizei im Vilnaer Ghetto eine herausragende Stellung.

Vilna (Vilnius) gehörte vor dem Zweiten Weltkrieg zu den wichtigsten Zentren jüdischen Lebens in Osteuropa. Nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten im Juni 1941 wurden innerhalb von nur sechs Monaten 55.000 litauische Juden ermordet. Für die verbliebenen 15.000 wurde in Vilna ein Ghetto errichtet. Obwohl das Vilnaer zahlenmäßig etwa mit dem Warschauer Ghetto nicht verglichen werden kann, war der prozentuale Anteil der in Litauen ermordeten Juden so hoch wie in keiner anderen jüdischen Gemeinde Europas: 94 Prozent.

Das von wahren Tatsachen inspirierte Drehbuch erzählt von den wenigen Menschen, die vor den Erschießungskommandos fliehen und durch die Kanalisation in das Ghetto gelangen können. Unter ihnen befinden sich mehrere Schauspieler sowie die Sängerin Haya (Erika Marozsán). Der erst 22-jährige, offenbar musikalisch begabte deutsche Kommandant Kittel (Sebastian Hülk) entdeckt bei ihr einen Sack gestohlener Bohnen. Statt sie zu erschießen, befiehl er ihr zu singen – und ist von Hayas Stimme so entzückt, dass Kittel die Wiederaufnahme des Theaterbetriebs anordnet. Die Idee empört allerdings die Ghettobewohner, allen voran den Bibliothekar Kruk (Alvydas Slepikas): „Auf dem Friedhof spielt man kein Theater“. Der jüdische Polizeichef Jakob Gens (Heino Ferch) sieht darin jedoch eine Chance, Menschenleben zu bewahren.

Im Gegensatz zu Polanskis „Der Pianist“ zeichnet „Ghetto“ kein realistisches Bild über das Leben im Vilnaer Ghetto. In der Inszenierung nicht, weil Juzenas’ Film sehr nahe am Theaterstück bleibt und keinen Überblick über das Vilnaer Ghetto bietet. Erst recht aber nicht in den hier angesprochenen Fragen. Denn „Ghetto“ handelt in erster Linie von einer ethischen Dimension, mit der sich Jakob Gens (Heino Ferch) – der ebenfalls auf den authentischen Polizeichef des Vilnaer Ghettos zurückgeht – auseinandersetzen muss.

Gens’ Position ist durchaus ambivalent. Einerseits weiß er, dass nur diejenigen eine Überlebenschance haben, die den Nazis Nutzen bringen. So unterstützt er etwa das Vorhaben des Schneiders Weiskopf (Vytautas Sapranauskas), der auf die geschäftstüchtige Idee kommt, deutsche Frontuniformen im Ghetto zu flicken, um den langen Weg zur Reparatur nach Berlin abzukürzen. Weil er in seiner „Werkstatt“ eine ansehnliche Zahl Arbeiter braucht, sichert er hundert Ghettobewohnern das Überleben – wenigstens vorerst.

Andererseits betätigt sich indes Gens als Handlanger des Kommandanten Kittel bei der Aussonderung von Greisen und Kindern: „An meinen Händen klebt Blut. Um anderen zu helfen, musste ich mich in die Schmutzlake stürzen. Ich hatte nicht die Möglichkeit für ein reines Gewissen.“ Ihm wird die eigene Mitschuld deutlich bewusst, als er Kittels Befehl befolgt, jede Familie im Ghetto darf nur zwei Kinder behalten, alle weiteren werden deportiert. Gens will sich erschießen. Nur mit Mühe hält ihn seine Frau davon ab.

Gegenüber dieser komplexen Gestalt wird Kittel als sadistischer kunstliebender Nazi klischeebeladen gezeichnet, der immer unberechenbar bleibt. Haya, die dritte in diesem Figurendreieck, muss sich ihrerseits entscheiden, ob sie sich dem gegen alle „Rassengesetze“ sie begehrenden Kittel hingeben darf, um dadurch Menschenleben zu retten.
So ist „Ghetto“, der zum nationalen Litauischen Holocaust-Gedenkprogramms gehört, ein Film, der vor allem moralische Fragen aufwirft.
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