GIB MICH DIE KIRSCHE! - DIE 1. DEUTSCHE FUßBALLROLLE | Gib mich die Kirsche! - Die 1. deutsche Fußballrolle
Filmische Qualität:   
Regie: Oliver Gieth, Peter Hüls
Darsteller: --
Land, Jahr: Deutschland 2004
Laufzeit: 85 Minuten
Genre: Dokumentation
Publikum: ab 6 Jahren
Einschränkungen: --
Auf DVD: 10/2006


JOSÉ GARCÍA
Foto: Constantin

Zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006 hatte der Welt-Fußballverband FIFA eine Art „offiziöse“ Spielfilm-Trilogie in Auftrag gegeben. Den Auftakt machte im vergangenen Herbst „Goal!“ (siehe Filmarchiv), der den Aufstieg eines jungen Mexikaners aus Los Angeles bis zum englischen Premier-League-Verein Newcastle United schildert.

„Goal!“ spielt zwar in den Fußballszenen die Stärken eines Spielfilmes aus, indem sich die Kamera zwischen den Spielern hin und her bewegt, was bislang keine echte Sportübertragung leisten kann. In dramaturgischer Hinsicht bleibt der Spielfilm jedoch unbefriedigend, weil die Rahmenhandlung die Konfrontation des Jugendlichen mit der harten Wirklichkeit des Profisports zu klischeebeladen darstellt.

Einen ganz anderen Ansatz haben die Dokumentar-Filmemacher Oliver Gieth und Peter Hüls gewählt, die in achtjähriger Recherchearbeit Bilddokumente aus dem ersten Jahrzehnts deutschen Profifußballs 1963 – 1974 zusammengetragen haben. Den Titel für ihre 85-minütige Filmdokumentation entnahmen Gieth und Hüls einem der Trainer- und Spielersprüche, an denen der Fußballsport nicht gerade arm ist: Auf die Frage eines Reporters antwortete dereinst Fußballlegende Lothar Emmerich: „Der Wosab lief auf links und dann hab ich ihm zugerufen: Gib mich die Kirsche! Und dann hab’ ich ihn reingemacht.“

„Gib mich die Kirsche! Die 1. deutsche Fußballrolle“ erzählt vom Beginn der Bundesliga 1963 bis zur ersten Weltmeisterschaft im eigenen Lande im Jahre 1974. Naturgemäß stehen dabei Spielauszüge mit „Stan“ Libuda, Uwe Seeler, Franz Beckenbauer, Gerd Müller, Sepp Maier, Günter Netzer, Paul Breitner und vielen anderen Spielern, die Fußballgeschichte geschrieben haben, im Mittelpunkt. Eine Dokumentation, in der selbstverständlich die Weltmeisterschaften von 1966, 1970 und 1974 die sportlichen Höhepunkte bilden.

„Gib mich die Kirsche!“ verknüpft jedoch darüber hinaus Spielübertragungen, Sportreportagen, Interviews, Geschichten und Anekdoten zu einer Zeitreise durch Fußballdeutschland in den sechziger und siebziger Jahren. Durch seine Konzentration auf die ersten elf Jahre Bundesliga machen die Filmemacher Oliver Gieth und Peter Hüls den tiefgreifenden Wandel nicht nur im Sport, sondern ach in der ganzen Gesellschaft sichtbar. Dazu führt Peter Hüls aus: „Uwe Seeler schämte sich fast für seinen Mercedes. In dem Ausschnitt, den wir zeigen, betont er, der Wagen sei sein Handwerkszeug. Fußball und Geld – das waren noch zwei verschiedene Paar Schuhe. Fußball war Ehrensache, Identität und Chance. Geld kam in diesem Universum erst viel später vor.“

Gerade in der Wandlung des Handelsvertreters Uwe Seeler zum Vollprofi-Fußballer Uwe Seeler verdeutlicht „Gib mich die Kirsche!“ die Entwicklung des Fußballs vom lokal und kulturell verwurzelten Sport-Ereignis zum Event der Unterhaltungsindustrie. Dazu trug nicht unwesentlich das Fernsehen bei, das aus „Kickern“ wie Beckenbauer oder Netzer medienwirksame Spitzenverdiener machte.

Ob die Dokumentation nun Sepp Maier und TV-Koch Max Inzinger beim Grillen des „Hippihoppi-Partyfisches“ oder Franz Beckenbauer beim Singen eines Schlagers (“Du bist das Glück”) zeigt, gerade die Sequenzen, die „Nebentätigkeiten“ der Fußballprofis zeigen, gehören zu den amüsantesten in „Gib mich die Kirsche!“.

In ihrer Dokumentation verschweigen Gieth und Hüls indes nicht die Schattenseiten des Fußballs: Ausführlich kommen sie auf den ersten Bestechungsskandal 1970/71 zu sprechen, die der damals noch jungen Bundesliga einen Schock versetzte. Aber auch in ihrer Widmung an die zwei „tragischen Helden“ Reinhard „Stan“ Libuda und Werner Kohlmeyer weisen Oliver Gieth und Peter Hüls auf die Kehrseite dieses in der Öffentlichkeit so umjubelten Sports hin. Reinhard „Stan“ Libuda (1943–1996) wurde ein Star, der keiner sein wollte, weswegen er sich nach seiner aktiven Zeit in der Öffentlichkeit kaum noch blicken ließ. Libuda starb kurze Zeit nach einer Kehlkopf-Operation. Werner Kohlmeyer (1924–1974), einem der „Helden von Bern“, gelang es nach dem Weltmeistersieg 1954 nicht, sein Leben in den Griff zu bekommen. Er wurde Alkoholiker, verarmte und starb drei Wochen vor seinem 50. Geburtstag.

Trotz dieser negativen Aspekte bleibt „Gib mich die Kirsche!“ eine heiter-nostalgische Zeitreise, die authentischer als ein Spielfilm auf die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 einzustimmen vermag.
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