BERLINALE 2019 - SCHLUSSBERICHT | Berlinale 2019 - Schlussbericht
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José Garcia
Foto: Berlinale

Am Wochenende ging nicht nur die 69. Berlinale, sondern auch eine Ära zu Ende. Dieter Kosslick verlässt die Internationalen Filmfestspiele nach 18 Jahren, die er mit einer ganzen Reihe neuer Sektionen erweiterte. Als Publikumsfestival wurde die Berlinale zu einem Massenphänomen mit zuletzt mehr als 400 000 verkauften Eintrittskarten. In der Kosslick-Ära wurde die Berlinale aber auch immer mehr zu einem filmischen Schaufenster des politisch Korrekten (siehe Berlinale 2019 - Vorschau). In der Programm-Pressekonferenz feuerte der ausscheidende Berlinale-Direktor beispielsweise eine volle Breitseite auf die Kirche ("nicht nur die katholische, auch die evangelische") ab, als er den Spielfilm "Grâce a Dieu" vorstellte. Aber auch die US-amerikanische Administration und insbesondere Donald Trump wurde genauso wie die AfD und die israelische Regierung von Benjamin Netanjau Ziel der Angriffslust Dieter Kosslicks. Im gleichen Atemzug lobte er die "Diversität" der Berlinale-Filme - insbesondere die Vielfalt der sexuellen Orientierung - was insbesondere für die "Panorama"-Sektion zutraf.

Im Wettbewerb war diese Thematik zwar durch den Spielfilm "Elisa y Marcela" der spanischen Regisseurin Isabel Coixet vertreten, der basierend auf wahren Tatsachen von der Liebesgeschichte zweier Frauen im Spanien des beginnenden 20. Jahrhunderts erzählt. Eine Beziehung, die von der Regisseurin ausgiebig in allzu expliziten Bildern dargestellt wird.

Für viel Gesprächsstoff sorgte der Spielfilm des bekannten französischen Regisseurs François Ozon "Grâce a Dieu" ("Gelobt sei Gott"), der in fast dokumentarischer Inszenierung von den in den 1970er und 1980er Jahren vom Priester Bernard Preynat verübten Missbrauchsfällen handelt. Im Mittelpunkt der Handlung stehen drei unterschiedliche Opfer von Pere Preynat: der fünffache Familienvater Alexandre Guérin (Melvil Poupad), der sich als praktizierender Katholik an Kardinal Barbarin (François Marthouret) wendet, der sich als Atheist bezeichnende François Debord (Denis Ménochet) und der gesundheitlich angeschlagene Emmanuel Thomassin (Swann Arlaud). Sie gründen den Verein "La parole libérée" ("Das gebrochene Schweigen"), und reichen eine Klage wegen "Nichtanzeige sexueller Aggressionen gegenüber Minderjährigen" gegen den Kardinal ein. Der deutsche Medienbischof Gebhard Fürst würdigte laut kathpress.at Ozons Film: Einen Blick auf die Missbrauchsfälle zu werfen sei "unbestreitbar schmerzhaft, aber wir haben uns seitens der katholischen Kirche für den Weg der rückhaltlosen Aufklärung entschieden." Solche Filme seien wichtig, "damit wir uns ein Bild machen können, was Missbrauch bedeutet, vor allem für die Opfer". Allerdings bleibt bei "Grâce a Dieu" die Handlung um die schmerzlichen Konsequenzen für die Opfer eher vordergründig. Der dramaturgisch entscheidende Wendepunkt im Film ist vielmehr Alexandres Eindruck, dass Kardinal Barbarin ihn lediglich hinhalten will. Ozon geht es offensichtlich darum, die Untätigkeit der Amtskirche anzuprangern. Dies verwundert umso mehr, als am Filmende eine Schrifttafel Auskunft darüber gibt, dass die Urteilsverkündung im laufenden Gerichtsverfahren für den 7. März erwartet werde. Warum wird ein solch anklagender Film vier Wochen vor Verkündung des Urteils uraufgeführt? Hätte Ozon den Ausgang des Verfahrens nicht abwarten können? Befürchtet er, dass ein Freispruch seine zentrale These zunichtemacht? Im Film ist etwa keine Rede davon, dass die Staatsanwaltschaft 2016 bereits gegen den Kardinal ermittelte, aber die Ermittlungen einstellte. Ebenso wenig erzählt er, dass die Staatsanwaltschaft beim Prozess für nicht schuldig plädiert.

Der am meisten berührende Wettbewerbsfilm handelte jedoch von den klassischen Kinosujets Schuld und Versöhnung. Der chinesische Regisseur Wang Xiaoshuai bettet diese Themen in eine Familiengeschichte ein, die sich über drei Jahrzehnte erstreckt. "Di jiu tian Chang" ("So long, My Son") erzählt vom Unfalltod des etwa elfjährigen Liu Xing Mitte der 1990er Jahre. Der Tod belastet nicht nur Liu Xings Eltern, sondern auch seinen besten Freund Shen Hao. Das gute Verhältnis der Eltern der zwei Freunde zerbricht. Erst viele Jahre später kommt es zu einem Wiedersehen der zwei Ehepaare und zur Aussprache zwischen dem inzwischen Erwachsenen Shen Hao und Liu Xings Eltern. Der Regisseur setzt eine elliptische Erzählweise sowie eine komplexe Dramaturgie ein: Der Film springt immer wieder von einer Zeitebene in die andere. Dadurch stellt er aus Vergangenem und Gegenwärtigem das Leben des Ehepaares zusammen. Außerdem geling es ihm, die Veränderungen in der chinesischen Gesellschaft zu vermitteln. Die internationale Jury vergab sowohl Wang Jingchun als auch Yong Mei je einen Silbernen Bären als Bester Darsteller beziehungsweise Beste Darstellerin.

Von Vergebung handelt ebenfalls der Eröffnungsfilm des Berlinale-Wettbewerbs "The Kindness of Strangers" von Lone Sherfig: Eine junge Mutter reist mit ihren beiden Söhnen nach New York City, um ihrem missbräuchlichen Polizistenmann zu entkommen. Als ihr Auto beschlagnahmt wird, müssen sie auf der Straße leben. Sie finden Unterschlupf bei einem jungen Mann, der nach Verbüßen einer Gefängnisstrafe sein Leben wiederherstellen und ein russisches Restaurant leiten möchte. "The Kindness of Strangers" versteht man am ehesten als Großstadtmärchen, das an manche Kaurismäki-Filme erinnert. Als interessant unter historischen Gesichtspunkten erwies sich Agnieszka Hollands "Mr. Jones", der vom walisischen Journalisten Gareth Jones erzählt, der Stalins Gräueltaten, den Hungertod von Millionen, in der westlichen Welt bekannt machte.

Neben den wenigen Höhepunkten im Wettbewerb enttäuschten gerade die deutschsprachigen Wettbewerbsbeiträge. Fatih Akins "Der goldene Handschuh" über einen Frauenmörder im Hamburg der 1970er Jahre zeichnete sich nicht nur durch Brutalität aus, sondern auch durch eine menschenverachtende Darstellung der gestrandeten Existenzen in der Kneipe "Der goldene Schuh". Nora Fingscheidts "Systemsprenger" handelt von der neunjährigen Benni, die unter gar keinen Umständen zu bändigen ist. Sie gehört laut der Regisseurin zu den "tragischen Figuren, weil sie so früh schon Schlimmes erleben müssen und ihre Chancen für die Zukunft aufs Spiel setzen". Allerdings ist der Film nicht nur wegen Bennis Schreianfälle und Gewalttätigkeit, sondern auch wegen der Hilflosigkeit der Erwachsenen und der allgemeinen Aussichtslosigkeit kaum zu ertragen. Angela Schanelecs "Ich war zuhause, aber..." führte dazu, dass wegen seiner Langatmigkeit die Pressevertreter das Kino in Massen verließen. Wieder einmal ein durchwachsener Berlinale-Jahrgang - Kosslicks Nachfolger, der künstlerische Leiter Carlo Chatrian und die geschäftsführende Leiterin Mariette Rissenbeek als Doppelspitze, stehen vor einem Neuanfang.
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