STATION AGENT | The Station Agent
Filmische Qualität:   
Regie: Tom McCarthy
Darsteller: Peter Dinklage, Patricia Clarkson, Bobby Cannavale, Michelle Williams, Raven Goodwin, Paul Benjamin, Jase Blankfort
Land, Jahr: USA 2003
Laufzeit: 88 Minuten
Genre: Literatur-Verfilmungen
Publikum: ab 6 Jahren
Einschränkungen: --


JOSÉ GARCÍA
Foto: Prokino

Der so genannte amerikanische Independentfilm handelt zumeist von Außenseitern in der Provinz. Nach dem Vorbild des wohl ersten Independentfilmers der Vereinigten Staaten John Cassavetes (1929–1989) steht in diesen „unabhängigen“ Filmen im Unterschied zum Mainstreamkino nicht so sehr die Handlung, sondern eher die Charakterzeichnung im Mittelpunkt. Den Spuren Cassavetes’ folgten etwa in den 80er Jahren Jim Jarmusch mit „Stranger Than Paradise“ (1984) und in den 90er Jahren Steve Buscemi mit seiner Verlierer-Geschichte „Trees Lounge“ (1997). In diese Tradition reiht sich nun das wunderbare Spielfilmdebüt von Tom McCarthy „Station Agent“ ein, für den der Regisseur – ganz im Sinne des Independentfilms – das Drehbuch selbst verfasst hat.

Das Leben des kleinwüchsigen Finbar McBride genannt Fin (Peter Dinklage) dreht sich ausschließlich um Eisenbahnzüge. Der 1,34 Meter große Außenseiter arbeitet in einem Modelleisenbahn-Laden in Hoboken. Als aber der Ladenbesitzer eines Tages plötzlich tot umfällt, vermachtet er Fin ein abgelegenes altes Eisenbahndepot im kleinen Flecken Newfoundland im Westen New Jerseys. Und weil Fin der Gesellschaft anderer Menschen die Einsamkeit vorzieht, hat er nicht das Geringste dagegen, sich sofort nach Newfoundland aufzumachen.

Fin hat freilich die Rechnung ohne den geschwätzigen Imbiss-Wirt Joe (Bobby Cannavale) gemacht, der den Verkaufsstand seines erkrankten Vaters in unmittelbarer Nähe zum alten Bahndepot betreibt. Der mitteilungsfreudige Kubaner lässt sich von der eindeutigen Abfuhr Fins nicht einschüchtern, und drängt sich ihm förmlich auf. Auch Joe ist ein Einzelgänger, der unter seiner oberflächlichen Extrovertiertheit eine große Sehnsucht nach wahrer Freundschaft verbirgt. Das Außenseiter-Trio wird durch eine Frau in mittleren Jahren vervollständigt: Olivia (Patricia Clarkson), die Fin auf dem Fußweg zum nächsten Supermarkt mit ihrem Wagen gleich zwei Mal fast überfährt. Die Malerin hat sich in das Provinznest zurückgezogen, nachdem ihr achtjähriger Sohn starb und sich ihr Mann von ihr scheiden ließ.

Durch die Art, wie die drei Einsamen sich annähern, aber zugleich den Rückzug der anderen ins Private respektieren, zeichnet Tom McCarthy diese Charaktere äußerst liebevoll. Der ironische Humor erinnert an Jarmusch – so schrieb eine US-amerikanische Filmzeitschrift: „Kein Film seit Jim Jarmuschs ‘Stranger Than Paradise’ hat es geschafft, so viel Komik aus drei relativ untätigen Menschen herauszuholen“; die von der Liebe zu den Figuren gekennzeichneten Lakonie indes an Aki Kaurismäkis „Der Mann ohne Vergangenheit“. Ganz ohne den Betroffenheitsgestus eines Hollywood-Films stellt dieser kleine, große Film einen „Behinderten“ in den Mittelpunkt, ohne aus dieser Tatsache Rührungskapital schlagen zu wollen. Nach McCarthys besitzt das Anderssein Fins lediglich insofern Bedeutung, als er einen Charakter darstellt, „der sich ganz bewusst in sich zurückzieht“.

Entscheidenden Anteil an der besonderen Stimmung von „Station Agent“ hat die Kamera, die konsequent mit Fin auf Augenhöhe bleibt. Der deutsche Kameramann Oliver Bokelberg machte aus der Not eine Tugend: Das kleine Budget zwang ihn, auf Super 16 mm statt auf dem üblichen 35 mm-Filmmaterial zu drehen, was „Station Agent“ eine unaufgeregte Einfachheit verleiht. Anders jedoch als mit der Handkamera werden mit dieser Kameraführung klassische Einstellungen erzielt. Dazu Bokelberg: „Schon sehr früh in der Vorbereitung hat Tom McCarthy die Western von John Ford ins Spiel gebracht. Einfache, unpretentiöse, klassische Bilder, in denen sich nicht die Kamera bewegt, sondern der Darsteller vor der Kulisse“. Damit werden Nahaufnahmen äußerst selten – und dadurch dem Zuschauer keine Stimmungen aufoktroyiert. Ähnliches lässt sich von der Filmmusik sagen, die kaum stimmungsfördernd eingesetzt wird.

In „Station Agent spielt der Schauplatz Newfoundland eine zentrale Rolle: Tom McCarthy entdeckte dieses Fleckchen mit dem verlassenen Depot, als er seinen Bruder besuchte. Er ging von diesem ganz konkreten Ort aus, um das Drehbuch zu schreiben. Dennoch: seine Geschichte besitzt universale, weil echt menschliche Züge, wovon die internationalen Preise zeugen, die der Film einheimsen konnte: nicht nur in Sundance 2003 („Bester Film“, „Bestes Drehbuch“ sowie „Beste Darstellerin“ für Patricia Clarkson), sondern auch die Jury-Preise in San Sebastián und Marrakesch sowie die Auszeichnung als „Bestes Originaldrehbuch“ bei der Preisverleihung der Britischen Filmakademie (BAFTA).
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