SEIT OTAR FORT IST … | Depuis qu' Otar est parti
Filmische Qualität:   
Regie: Julie Bertuccelli
Darsteller: Esther Gorintin, Nino Khomassouridze, Dinara Droukarova, Temour Kalandadze, Sacha Sarichvili, Roussoudan Bolkvadze
Land, Jahr: Frankreich/Belgien 2002
Laufzeit: 99 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: X -


JOSÉ GARCÍA
Foto: Movienet

Seit jeher hat das Kino die nicht zu unterschätzende Funktion erfüllt, dem Zuschauer fremde Welten zu erschließen. Ein Großteil des Erfolges, den etwa heute iranische Filme im Westen genießen, ist gerade darauf zurückzuführen, dass sie uns Europäern die Lebensbedingungen einer anderen Welt näher bringen. Im Unterschied zu reinen Dokumentationen, die eine exotische Kultur beschreiben, darf ein Spielfilm aber erst als gelungen angesehen werden, wenn er die unbekannte Welt mit einer allgemein gültigen Geschichte verknüpft.

Dem Spielfilmdebüt der französischen Regisseurin Julie Bertuccelli (Jahrgang 1968) „Seit Otar fort ist...“ gelingt diese Verknüpfung von universal gültiger Familiengeschichte mit der Ansiedlung der Handlung in der Hauptstadt Georgiens mit scheinbarer Leichtigkeit.

In der gemeinsamen Wohnung in Tiflis leben die neunzigjährige Eka, ihre Tochter Marina und ihre Enkelin Ada. Otar, Ekas Sohn und Marinas Bruder, versucht in Paris als illegaler Einwanderer sein Glück zu finden. Seit Otar fort ist, wartet Eka täglich auf Telefonate oder Briefe ihres Sohnes. Marina, die trotz ihres Ingenieurdiploms keine Anstellung gefunden hat und sich mit dem Verkauf ihres Hausrats auf dem Flohmarkt durchschlagen muss, führt den Konkurrenzkampf mit ihrem Bruder auch oder gerade nach dessen Fortzug um die Liebe der Mutter fort. Die zwanzigjährige Studentin Ada verkörpert die kritische Intellektuelle aus der jungen Generation, die vor allem eines im Kopf hat: ein ganz neues Leben im Westen zu beginnen.

Kaum hat das von Julie Bertuccelli mitverfasste Drehbuch die Hauptfiguren etabliert, erreicht Marina und Ada die Meldung von Otars Tod, welche die Handlung in Bewegung setzt. Denn Tochter und Enkelin trauen sich nicht, der neunzigjährigen die Nachricht zu überbringen. Ähnlich „Good Bye, Lenin!“ wird auch hier ein Lügengerüst aufgestellt, um das womöglich tödliches Zusammenbrechen Ekas zu vermeiden: Ada schreibt von nun an Otars Briefe an seine Mutter, in denen von einer bescheidenen, aber glücklichen Existenz in Paris die Rede ist. Was in Eka die Sehnsucht erweckt, den Sohn zu besuchen. So machen sich die drei Frauen auf den Weg in die französische Hauptstadt, wo sich das Geflecht von Lügen und Halbwahrheiten in der Luft auflöst – jedoch anders als erwartet.

In schön komponierten Bildern und sorgfältig ausgesuchten Bildausschnitten, worin sich Bertuccellis Ausbildung als Regieassistentin bei Altmeistern wie Otar Iosseliani, Bertrand Tavernier oder Krzysztof Kieslowski offenbart, schildert die Regisseurin den Alltag der drei Frauen; darüber hinaus fängt sie wie beiläufig das Leben in Tiflis ein. Dieser besondere Charakter von „Sein Otar fort ist...“ schlägt sich etwa in einer langen Szene im Postamt nieder, die den Weg eines Briefes von Paris nach Tiflis nachzeichnet. Nach eigenem Bekunden gehört diese Szene zu den Lieblingsstellen der Regisseurin: „Es war die erste Szene, die ich mir ausgedacht hatte, und die erste, die ich gedreht habe. Die Bilder sind Dokumentarbilder, und ich bin sehr zufrieden damit.“

Mit halbdokumentarischer Ästhetik – Julie Bertuccelli hat in den letzten zehn Jahren fünf Dokumentarfilme gedreht – zeigt „Seit Otar fort ist...“ das Lebensgefühl dreier Generationen in einem Land der ehemaligen Sowjetunion: während sich Eka und Ada in eine Fantasiewelt flüchten – indem die Ältere in der verklärten Erinnerung an die Vergangenheit schwelgt, und die Jüngere von einer besseren Zukunft träumt –, ist Marinas Generation die vom Wandel eigentlich Getroffene: sie hat ihren Mann in Afghanistan verloren, sie hat keine Arbeit gefunden. Für Marina gibt es den von ihrer Tochter ersehnten Aufbruch in den Westen nicht mehr. So repräsentiert Marina die Zeit, in der die Sowjetunion auseinander und in Georgien nicht nur die Wirtschaft, sondern das ganze gesellschaftliche System zusammenbrach.

„Seit Otar fort ist...“ konzentriert sich allerdings vor allem auf die Beziehungen der drei Frauen untereinander sowie auf ihre Sehnsüchte und Lebensentwürfe. Dazu die Regisseurin: „Ich wollte, dass die Geschichte universelle Wirkung hat, dass es eine Geschichte ist, die zufällig in Georgien spielt, die aber ebenso gut anderswo hätte spielen können.“ Dieser allgemein gültige Charakter ist es, was „Seit Otar fort ist...“ zu einem kleinen großen Filmwerk macht.
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