KÖRPER UND SEELE | Teströl és lélekr öl
Filmische Qualität:   
Regie: Ildikó Enyedi
Darsteller: Alexandra Borbély, Géza Morcsányi, Réka Tenki, Zoltán Schneider, Ervin Nagy
Land, Jahr: Ungarn 2017
Laufzeit: 116 Minuten
Genre:
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: X
im Kino: 9/2017
Auf DVD: 1/2018


José García
Foto: Alamode

Ein Hirsch mit stattlichem Geweih streift durch einen verschneiten Wald. Dort erblickt er eine kleinere und offensichtlich jüngere Hirschkuh, der er sich vorsichtig annähert. Die Anfangsszene des Spielfilms "Körper und Seele" von Ildikó Enyedi, der bei der 67. Berlinale im Februar 2017 mit dem Goldenen Bären sowie mit dem Internationalen Filmkritiker- und mit dem Preis der ökumenischen Jury ausgezeichnet wurde, stellt sich als Traumsequenz heraus.

Die eigentliche Handlung von "Körper und Geist" spielt sich in einem viel profaneren Rahmen als der betörend schöne Winterwald ab. Haupthandlungsort des Berlinale-Gewinners ist ein Schlachthof. Dessen Finanzchef Endre (Géza Morcsányi), einem etwa 50-jährigen Mann mit einem gelähmten Arm, fällt die neue Qualitätskontrolleurin Maria (Alexandra Borbély) von Anfang an auf, als sie dort ihre Stelle antritt. Ihr etwas steifes Auftreten, ihre menschenscheue Art, sich getrennt von allen Kollegen an einen freien Tisch in der Kantine zu setzen, verbindet sich mit einer beinahe entrückten Schönheit. Endres Versuche, sich der peniblen Kollegin anzunähern, die sich am liebsten in ihre Arbeit verkriecht, wo sie mit niemand in Kontakt zu treten braucht, scheitern. Ebenso, als er auf Bitten der Kollegen sie um ein Gespräch bittet: Die Mitarbeiter finden sie viel zu streng in Bezug auf die Fleischqualität. Wieder einmal findet Endre keinen persönlichen Zugang zu Maria.

Erst die Untersuchung eines Potenzmittel-Diebstahls aus einem Schrank des Schlachthofs durch die Polizei treibt die Handlung voran. Eine Psychologin soll die Belegschaft befragen. Als sowohl Endre als auch Maria ihr vom Traum mit dem Hirsch und der Hirschkuh im schneebedeckten Wald erzählen, glaubt sie logischerweise, die beiden hätten sich abgesprochen. Die Beteiligten selbst reagieren zunächst überrascht, ja irritiert. Am nächsten Tag stellen die beiden aber fest, dass sie in der Nacht erneut denselben Traum geträumt haben. Sie beginnen, ihre Nachterlebnisse füreinander aufzuschreiben.

Ebenfalls beginnen sie, sich auch außerhalb des Traumes vorsichtig anzunähern. Aber einfach ist es für die beiden nicht. Denn Endre hat sich nach vielen Enttäuschungen in Liebesdingen in ein einsames Leben zwischen Arbeitsplatz, Schnellrestaurant und Fernsehcouch zurückgezogen. Auf gar keinen Fall möchte sich der alternde Mann vor der jungen Kollegin blamieren. Maria leidet ihrerseits unter Ordnungszwang, gepaart mit einem phänomenalen Gedächtnis. Die junge Frau hat außerdem Angst vor Begegnungen und insbesondere vor Berührungen. Sie sucht ihren ehemaligen Kinderpsychologen immer noch und immer wieder auf. Endre und Maria beginnen, Dinge gemeinsam zu unternehmen, um herauszufinden, ob es für sie auch ein gemeinsames Leben im Wachzustand geben könnte.

Parallel dazu baut Ildikó Enyedi in einem Handlungsnebenstrang sozusagen ein Kontrastprogramm in der Person des jungen Sándor (Ervin Nagy) auf, der bei den Frauen ziemlich gut ankommt. Sándor stellt sich somit als das genaue Gegenteil von Endre heraus.

Zu ihrem Film führt Drehbuchautorin und Regisseurin Ildikó Enyedi aus: "In all meinen Projekten kommt die Geschichte als allerletztes. Dieser Film begann, wie alle meine anderen Filme, mit dem Wunsch, meine Sicht auf die conditio humana, die menschliche Natur und die Bedingungen des Menschseins zu teilen, auf die Art und Weise, wie wir unser Leben leben. Außerdem wollte ich von Anfang an eine überwältigende, leidenschaftliche Liebesgeschichte erzählen ? auf so wenig überwältigende und leidenschaftliche Weise wie möglich."

Was die Regisseurin damit meint, äußert sich über die halbdokumentarischen Aufnahmen auf dem Schlachthof hinaus insbesondere in einer sozusagen beiläufigen Kameraführung. Kameramann Máté Herbai verknüpft unterschiedliche Schärfegrade miteinander. Damit rückt er häufig Details am Rande in den Mittelpunkt, während die zentralen Ereignisse etwas unscharf wirken. Darüber hinaus spielt Máté Herbai mit den Farben, so etwa in den etwas ungesättigten Farbtönen der Traumsequenzen. Als besonders berührend erweist sich der Augenblick, als die berührungsscheue Maria den gelähmten Arm Endres streichelt.

Die außergewöhnliche Liebesgeschichte, die aus der ebenso ausgefallenen Idee entstammt, dass zwei Menschen unabhängig voneinander immer wieder denselben Traum erleben, spielt darüber hinaus an einem modernen Arbeitsplatz, der laut der Regisseurin "der Spiegel unserer westlichen Gesellschaft" sei. Ildikó Enyedi erklärt dazu: "Seitdem wir die tröstenden, stützenden Rituale der Religion verloren haben (zumindest die meisten von uns) sind wir ratlos, wie wir mit den wichtigsten Momenten unseres Lebens umgehen sollen: Geburt, Liebe, Tod. Das Ritual, das Wissen, dass man einen heiligen Moment erlebt, hat früher geholfen, diese Momente zur Gänze auszuleben. Seit dieses solide Gerüst verlorengegangen ist, versucht die Gesellschaft mit diesen Momenten auf praktische Weise umzugehen. Das verwandelt einen selbst in ein Objekt, und es verwandelt Menschen in Objekte."

Die Traumszenen mit den Hirschen wiederholen sich immer wieder. Sie stehen für die Sehnsüchte der Menschen, die sie träumen. Sie gehen allerdings über die darin gespiegelte, eigentliche Liebesgeschichte hinaus. Denn die gefeierte ungarische Regisseurin bietet dem Zuschauer mit "Körper und Seele" auch eine Möglichkeit, über sich hinauszuwachsen, eine Öffnung zur Transzendenz. Unter diesem Gesichtspunkt erweist sich der Filmtitel als wohlüberlegt: Körper und Seele machen den Menschen aus.
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