JAHRHUNDERTFRAUEN | 20th Century Women
Filmische Qualität:   
Regie: Mike Mills
Darsteller: Annette Bening, Greta Gerwig, Elle Fanning, Billy Crudup, Lucas Jade Zumann, Alison Elliott, Thea Gill, Olivia Hone
Land, Jahr: USA 2016
Laufzeit: 118 Minuten
Genre:
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: X -
im Kino: 5/2017
Auf DVD: 9/2017


José Garcia
Foto: splendid film

Santa Barbara, Südkalifornien, im Jahre 1979. Auf dem Parkplatz eines Supermarkts brennt ein Auto. In dem Ford Galaxie wurde Jamie (Lucas Jade Zumann) vor 15 Jahren als Neugeborener nach Hause gefahren. Seine Mutter Dorothea Fields (Annette Bening) war damals 40 Jahre alt, der Meinung vieler nach zu alt, um erstmals Mutter zu werden. Damals lebte der Vater noch bei Frau und Kind. Später verließ er sie jedoch. Diese Vorgeschichte erfährt der Zuschauer im Spielfilm "Jahrhundertfrauen" von Drehbuchautor und Regisseur Mike Mills aus den abwechselnden Off-Stimmen von Mutter und Sohn.

Wenn irgendwann einmal im Fernsehen eine Szene aus "Casablanca" läuft, und Teile des Films mit dem berühmten "As Time Goes By" unterlegt werden, könnte man meinen, dies sei ein nostalgischer Film. Der Schein trügt aber, genauso wie der deutsche Verleihtitel "Jahrhundertfrauen" falsche Assoziationen weckt. Denn der Film handelt nicht von irgendwelchen "Super"-Frauen, sondern von Frauen aus dem 20. Jahrhundert, so auch der Originaltitel "20th Century Women", oder genauer von Frauen im ausgehenden 20. Jahrhundert.

Kettenraucherin Dorothea, die in einem Architekturbüro arbeitet, sucht einen Vaterersatz für ihren Sohn Jamie. Obwohl sie bei der Arbeit von lauter Männern umgeben ist, verspürt sie wenig Lust, eventuell unter ihnen ein männliches Vorbild für Jamie auszusuchen. Vielleicht könnte diese Stelle William (Billy Crudup) einnehmen, der in einem der Zimmer wohnt, die Dorothea in ihrem großen Haus vermietet. Ex-Hippie William renoviert zurzeit das Haus, und Autos reparieren kann er auch. Aber sein Charakter ist Dorothea irgendwie ziemlich unstet. Nachdem Jamie bei einem gefährlichen Spiel mit seinen Skater-Freuden beinah ums Leben gekommen wäre, sieht seine Mutter ein, dass sie die Welt ihres Sohnes nicht mehr versteht. Deswegen bittet sie zwei junge Frauen darum, Jamie dabei zu helfen, sich in dieser neuen Welt zurechtzufinden: Abbie und Julie.

Drehbuchautor und Regisseur Mike Mills führt teilweise mit schnellgeschnittenen Sequenzen deren Geschichte ein: Die 24-jährige Punk-Fotografin Abbie (Greta Gerwig) wohnt ebenfalls in einem Zimmer in Dorotheas Haus, seit sie nach einer Krebsdiagnose aus New York floh. Die 17-jährige Nachbarstochter Julie (Elle Fanning) verbringt viel Zeit in Jamies Zimmer. Obwohl er in Julie verliebt ist, möchte sie lieber ihre platonische Freundschaft fortführen.

Neben der liebevollen Hommage an eine starke Mutter schildert "Jahrhundertfrauen" eine Umbruchszeit. Bezeichnend dafür ist eine berühmte Fernsehrede des damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter, die ausführlich zitiert wird: "Wir befinden uns an einem Wendepunkt", wobei Carter die Konsumhaltung und die Gier seiner Landsleute geißelt. Äußerlich zeigt sich dies beispielsweise am Übergang vom Hippietum zum Punk ? wobei am Ende die warnende Stimme Dorotheas zu hören sein wird: "Sie ahnen nicht, dass dies das Ende des Punk ist. Sie wissen nicht, dass Reagan kommt und Bush und Clinton." Ende der 1970er Jahre ist es aber auch die Zeit des aufkommenden Feminismus. Abbie versorgt Jamie mit entsprechender feministischer Literatur. Die neue feministische Redeweise äußert sich bei einem Abendessen in einer peinlichen Erläuterung von intimen Details.

Der Vergleich zu Richard Linklaters "Boyhood" liegt nahe. Denn "Boyhood" erzählte ebenfalls vom Erwachsenwerden eines Jungen, dessen Vater abwesend ist, weil er anfangs ein Hippieleben weit weg von der Familie führt. Zwar kommt "Jahrhundertfrauen" nicht ganz an Linklaters Erzählqualitäten heran. Mike Mills gelingt es dennoch, nicht nur den Zeitgeist einer Umbruchszeit einzufangen. Mit Richard Linklaters Meisterwerk oder auch mit einigen Filmen des britischen Regisseurs Mike Leigh, etwa "Another Year" hat "20th Century Women" gemeinsam, dass im Mittelpunkt nicht so sehr die aus lauter Alltäglichkeiten bestehende Handlung, sondern die Figurenzeichnung steht.

Mike kann nicht so sehr als ein "Coming-Of-Age-Film" (Geschichte des Erwachsenwerdens) eines Jungen denn als das Porträt dreier Frauen aus unterschiedlichen Generationen bezeichnet werden: Als im Jahre 1924 geborene Frau erlebte Dorothea den Zweiten Weltkrieg als Erwachsene. Dass sie Kettenraucherin ist, versteht sich nicht nur als Randnotiz, sondern eher als ein weiteres Merkmal einer Generation, die ohne Warnungen auf den Zigarettenpackungen aufwuchs.

Annette Bening gestaltet sie als überforderte Mutter, die aber ihren Sohn über alles liebt. Dank der feinfühligen Darstellung versteht der Zuschauer auch, warum Drehbuchautor und Regisseur Mike Mills seinen Film seiner Mutter gewidmet hat. Greta Gerwig, die im Independent-Film mittlerweile eine ähnlich herausragende Rolle einnimmt wie vor ihr Parker Posey oder Chloë Sevigny, verkörpert die "mittlere Frauengeneration": Als junge Erwachsene hat sie ein selbstständiges Leben in der Großstadt geführt, wo sie ihren Traum als Fotografin verwirklichen wollte. Der Gebärmutterkrebs führte sie aber dazu, ihr Leben erneut umzukrempeln. Als Jüngste wird die 17-jährige Julie von einer Schauspielerin dargestellt, die trotz ihrer Jugend über eine langjährige Erfahrung im Film verfügt. Elle Fanning verbindet jugendliche Unschuld mit einer gewissen Frühreife. Im Kern handelt "Jahrhundertfrauen" jedoch von der Liebe einer Mutter zu ihrem Sohn, aus dessen Sicht sich der Regisseur dem Geheimnis anzunähern versucht, was Mutterschaft eigentlich bedeutet.
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