EID, DER | Eidurinn
Filmische Qualität:   
Regie: Baltasar Kormákur
Darsteller: Baltasar Kormákur, Hera Hilmar, Gísli Örn Gardarsson, Margrét Bjarnadóttir, Ingvar Eggert Sigurdsson, Gudrun Sesselja Arnardóttir, Joi Johannsson
Land, Jahr: Island 2016
Laufzeit: 102 Minuten
Genre:
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: G
im Kino: 2/2017


José García
Foto: Alamode

Der Eid, auf den sich der gleichnamige Thriller von Baltasar Kormákur bezieht, ist natürlich der Eid des Hippokrates, der Ärzte dazu verpflichtet, "zu Nutz und Frommen der Kranken, nach bestem Vermögen und Urteil" zu arbeiten, "niemandem, auch nicht auf seine Bitte hin, ein tödliches Gift" zu verabreichen sowie "nie einer Frau ein Abtreibungsmittel" zu geben. Darüber hinaus schwört der Arzt ebenfalls: "Heilig und rein werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren." Für den Chirurgen Finnur (Baltasar Kormákur) bedeutet dies, gewissenhaft, ja mit einem Hang zum Perfektionismus zu operieren. Von den Kollegen im Reykjavíker Krankenhaus wird der erfahrene Arzt sehr geschätzt. Privat scheint Finnurs Leben ebenfalls in bester Ordnung zu sein: In einem schönen Haus am Rande von Islands Hauptstadt lebt er zusammen mit seiner zweiten Frau Solveig (Margrét Bjarnadóttir), der gemeinsamen kleinen Tochter Hrefna und der 18-jährigen Tochter aus erster Ehe Anna (Hera Hilmar), deren Mutter in den Vereinigten Staaten lebt.

Erste Risse in der Familienidylle werden bei der Beerdigung von Finnurs Vater sichtbar, zu der Anna zu spät kommt, weil sie bis nachmittags verschlafen hat. Dass sie auch noch einen viel zu kurzen Rock trägt und dauernd Kaugummi kaut, gefällt Finnur nicht gerade. In der Vater-Tochter-Beziehung scheint es Probleme zu geben. Diese verschlechtert sich zusehends. Grund dafür ist Annea Beziehung zu Óttar (Gísli Örn Gardarsson). Dass dieser um Einiges älter als sie ist, könnte noch gehen. Aber dass Óttar offensichtlich in Drogengeschäfte verwickelt ist, geht Finnur zu weit. Die 18-Jährige fühlt sich jedoch alt genug, um sich von ihrem Vater nicht bevormunden zu lassen. Da Finnur bei seiner Tochter nichts erreicht, sucht der Arzt Óttar auf, um den jungen Mann zu überreden, die Beziehung zu beenden. Weil dies auch keine Wirkung zeitigt, entschließt sich Finnur zu einem illegalen Schritt: Er bricht bei Óttar ein und lässt die Drogen so sichtbar liegen, dass die Polizei sie findet. Damit beginnt aber eine Spirale der Gewalt, aus der sich der bis dahin vorbildliche Familienvater und Arzt kaum wird befreien können.

Denn nun sitzen die richtigen Drogenbosse Óttar im Nacken, der wiederum von Finnur den Einkaufswert des Rauschgifts fordert. Weil der Chirurg zunächst nur eine Teilsumme und nur unter der Bedingung zahlen will, dass Óttar Anna verlässt, setzt Óttar schlagkräftigere Argumente ein. Für Finnur stellt sich die Frage, wie weit er gehen will und kann, um seine Familie zu schützen ... und selbst aus der misslichen Lage herauszukommen, in die er nicht ganz schuldlos hineingeraten ist. Denn durch den Versuch, Anna vom drogendealenden Óttar fernzuhalten, um seine Tochter zu beschützen, bringt er sich selbst in eine ausweglose Lage, aus der er sich mit rechten Mitteln wohl kaum befreien kann.

Baltasar Kormákur erzählt seine Geschichte sehr konzentriert und in genau komponierten Bildern nicht nur der isländischen Landschaft, sondern auch der verschiedenen Innenräume. Die beinah minimalistisch zu nennende Inszenierung konzentriert sich auf die Haupthandlung. Sie erinnert vage an viele Filme von Alfred Hitchcock, bei dem ein rechtschaffener Bürger plötzlich in kriminelle Machenschaften verwickelt wird. Allerdings besteht zwischen der Hitchcockmäßigen Ausgangslage und Kormákurs Film ein bedeutender Unterschied: Finnur wird nicht in eine Sogspirale ohne sein Zutun hineingezogen. Er folgt vielmehr einer Kurzschluss-Reaktion, aus der sich alles Weitere ergibt. Dadurch gerät der Film in die Nähe klassischer Selbstjustizfilme, etwa "Ein Mann sieht Rot" ("Death Wish", 1974, mit Charles Bronson in der Hauptrolle) oder moderner "Gone Baby Gone - Kein Kinderspiel" von Ben Affleck.

Obwohl Finnurs Handlungen in ihren Gewaltexzessen nicht immer glaubwürdig erscheinen, schafft Baltasar Kormákur in "Der Eid" eine besondere Spannung, nicht durch irgendwelche Effekte, sondern insbesondere durch seine eigenen Darstellerqualitäten als Hauptdarsteller. Dabei spielt auch die verschneite isländische Landschaft eine wichtige Rolle. Denn genauso kalt reagiert auch Finnur, zeigt er sich bereit, Grenzen zu überschreiten. Kormákur gestaltet Finnur als liebenden Familienvater sowie anerkannten und moralisch integren Arzt — daher die Anspielung auf den Eid des Hippokrates —, der aber in einer Grenzsituation zu Mitteln greift, die er eigentlich verabscheut. Ihm gelingt es, dem Zuschauer das Gefühl zu vermitteln, dass er selbst davon überrascht wird, wozu er alles imstande ist.

Aufschlussreich für die Bewertung von Finnurs Tat ist ebenfalls die Spiegelung in seinem Beruf: Der zu Handlungsbeginn souverän und mit aller Präzision am offenen Herzen operierende Chirurg beginnt Fehler zu machen, die Patienten in Lebensgefahr bringen. Die Entschlossenheit, mit der Finnur aus der Zwangslage heraus handelt, bringt ihn auch in Schwierigkeiten, den Eid des Hippokrates zu erfüllen.

Obwohl sich als Regisseur Kormákur eines endgültigen Urteils über die Handlungsweise seines Protagonisten enthält, lässt er den Zuschauer auch wegen der Folgen für seine Berufsausübung über die moralische Bewertung der Tat nicht im Unklaren. Dass sich dennoch der Arzt der Sympathie des Zuschauers sicher sein kann, ist die große Stärke von Kormákurs Inszenierung. Dadurch, dass er Finnurs aussichtslose Situation konzentriert und präzise schildert, stellt der Regisseur in "Der Eid" tiefgründige Fragen, wozu der Mensch alles fähig ist.
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