HEDIS HOCHZEIT | Inhebbek Hedi
Filmische Qualität:   
Regie: Mohamed Ben Attia
Darsteller: Majd Mastoura, Rym Ben Messaoud, Sabah Bouzouita, Hakim Boumessoudi Land
Land, Jahr: Tunesien, Belgien, Frankreich, Katar, Vereinigte Arabische Emirate 2016
Laufzeit: 88 Minuten
Genre:
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: X
im Kino: 9/2016


José Garcia
Foto: Arsenal

Fünf Jahre nach dem sogenannten Arabischen Frühling steht Tunesien am Scheideweg zwischen Tradition und Moderne. So zeichnet das Land Regisseur Mohamed Ben Attia in seinem Spielfilm "Hedis Hochzeit" ("Inhebbek Hedi"), der am Wettbewerb der diesjährigen Berlinale teilnahm, dort mit dem Silbernen Bären für den besten Darsteller und für den besten Erstlingsfilm ausgezeichnet wurde, und nun im regulären Kinoprogramm anläuft.
Im Mittelpunkt von Ben Attias Spielfilmdebüt steht der junge Hedi (Majd Mastoura), ein ruhiger, ja ziemlich willensschwacher Mittzwanziger in Kairouan, der tunesischen Provinz. Am liebsten wäre Hedi Comiczeichner geworden, arbeitet aber wegen der Eltern bei einem Autohändler. Bereits zu Beginn sieht ihn der Zuschauer etwa offen desinteressiert an einer Firmensitzung teilnehmen. Die dominierende Mutter Baya (Sabah Bouzouita), die alle in der Umgebung anherrscht, hat bereits Hedis Hochzeit mit der aus einer ebenso traditionellen Familie stammenden Khedija (Omnia Ben Ghali) arrangiert, die sich ebenfalls der Tradition beugt. Hedi und Khedija dürfen sich vor der Hochzeit "offiziell" nicht alleine sehen. Deshalb treffen sich die beiden Abend für Abend in einem Auto und reden. Den beiden, vor allem aber Hedi, ist deutlich anzumerken, dass sie gar nichts füreinander empfinden. Aber Hedi fügt sich. Denn er ist ja der "kleine Bruder", für den die Entscheidungen getroffen werden.

Regisseur Mohamed Ben Attia führt über Hedi aus: "Hedi bedeutet ruhig, gelassen, und der Name hat sich von selbst als Titel des Films aufgedrängt, weil das nicht nur den Hauptcharakter beschreibt, sondern auch die Situation, in der er sich zu Beginn der Geschichte befindet. Da ist Hedi die Ruhe vor dem Sturm. Und wie viele andere Tunesier erfährt Hedi das Stigma der Tradition, in seinem Fall durch die bevorstehende Heirat mit Khedija."

Just in der Woche, in der Hedis Mutter generalstabsmäßig die Hochzeit vorbereitet, wird Hedi von seinem Chef nach Mahdia, einer Stadt am Meer, entsandt. Dort versucht er zwar, neue Kunden zu gewinnen, aber dies stellt sich als schwierig heraus, weil viele Betriebe einfach aufgegeben wurden. Bald verbringt der junge Mann die Zeit lieber am Strand als auf staubigen Straßen. Im Hotel beobachtet er Rim (Rym Ben Messaoud), die als Animateurin für die dort ihre Ferien verbringenden, hauptsächlich deutschen Familien arbeitet. Hedi begegnet der jungen Frau wieder am Strand, wo sie sich um die Kinder der Touristen kümmert. So lernt er eine junge Frau kennen, die genau das Gegenteil seiner Verlobten Khedija darstellt. Denn sie führt ein selbstbestimmtes Leben, hat im Ausland gelebt — und deshalb auch den "arabischen Frühling" nicht persönlich erlebt — und ist emanzipiert. Hals über Kopf verlieben sich die beiden ineinander. Hedi lebt förmlich auf. An Rims Seite lächelt er beispielsweise zum ersten Mal im Film. Während zu Hause die Hochzeitsvorbereitungen in vollem Gange sind, muss Hedi endlich mal eine eigene Entscheidung treffen.

Ähnlich den Filmen der Regisseure-Brüder Jean Pierre und Luc Dardenne, die in "Hedis Hochzeit" als Koproduzenten fungieren, heftet sich Frédéric Noirhommes Kamera in der ersten Hälfte an Hedis Fersen. Erst später, mit seinem Aufblühen in Mahdia, weitet sich zwar die Sicht. Aber die Kamera bleibt dennoch Hedi und Rim sehr nah, um ihre Gefühle zu erkunden.

Hedis Reise beziehungsweise Entscheidung zwischen Tradition und Moderne wird allzu offensichtlich als Metapher für die Lage Tunesiens eingesetzt. Dazu Regisseur Ben Attia: "Zu diesem Zeitpunkt wurde die Parallele zwischen der Reise dieses jungen Mannes und dem, was in unserem Land vor sich ging, offensichtlich und wurde zur zentralen Aussage der Geschichte, die ich um Hedis Figur entwickelte. Die Parallelen zwischen Hedi und dem, was wir zu der Zeit in Tunesien erlebten, diktierten quasi die Züge seiner Persönlichkeit und der Figur, die ich auf der Leinwand zeigen wollte."

Ohne sie zu Abziehbildern zu degradieren, stehen die Figuren für die unterschiedlichen Positionen in dem Land nach dem Abklingen der Revolution. Die ältere Generation — und vor allem die Mutter — beharrt auf der Tradition. Dass die alles bestimmen wollende Frau für ihren Sohn eher ein sanftmütiges Mädchen ausgesucht hat, wirkt nur auf den ersten Blick paradox. Ähnlich dem Gegensatz zwischen Rim und Khedija stellt sich Hedis älterer Bruder Ahmed (Hakim Boumessoudi) als das Gegenteil von Hedi heraus: Ahmed hat sich von seiner Familie längst emanzipiert. Er lebt mit Frau und Kindern in Frankreich. Zur Hochzeit kommt er allerdings alleine nach Hause.

Anhand dieser Charaktere möchte Mohamed Ben Attia nach eigenem Bekunden ein Porträt Tunesiens zeichnen. Was er zeigt, ist eine zerrissene Jugend: Ahmed hat sein Land verlassen müssen, um Arbeit zu finden. Nach einem Auslandsaufenthalt hat sich Rim emanzipiert. Aber Khedija steht für eine passive, abwartende Jugend. Und Hedi? Beflügelt durch die Liebe zu Rim scheinen ihm alle Möglichkeiten offen zu stehen. Wird er sich von der Tradition befreien? "Durch verlassene Autoparks, Firmen, die ihre Produktion runtergeschraubt haben, verlassene Strände und Schwimmbäder und Hotels, die ihr Personal entlassen" vermittelt Ben Attia das Gefühl einer Gesellschaft, die fünf Jahre nach dem arabischen Frühling manche Rückschläge erfahren hat. "Meine Figuren bewegen sich in diesen von Unheil betroffenen Landschaften, und verkörpern das Mäandern einer ganzen Gesellschaft", erklärt der Regisseur.
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