TONI ERDMANN | Toni Erdmann
Filmische Qualität:   
Regie: Maren Ade
Darsteller: Peter Simonischek, Sandra Hüller, Michael Wittenborn, Thomas Loibl, Trystan Pütter, Hadewych Minis, Lucy Russell, Ingrid Bisu
Land, Jahr: Deutschland, Österreich 2016
Laufzeit: 162 Minuten
Genre:
Publikum: Erwachsene
Einschränkungen: D, S++, X
im Kino: 7/2016
Auf DVD: 12/2016


José García
Foto: NFP

Kaum ein deutscher Film hat in den letzten Jahren vor dessen Start im regulären Kinoprogramm so viel Aufmerksamkeit geweckt wie Maren Ades "Toni Erdmann". Als erste deutsche (genauer: deutsch-österreichische) Produktion im Wettbewerb der Filmfestspiele Cannes seit acht Jahren kam er bei Kritikern und Publikum gleichermaßen gut an - was bei Filmfestivals selten genug vorkommt. Nur die internationale Jury fand den Film offensichtlich nicht herausragend, so dass er keinen offiziellen Preis erhielt. Dafür zeichneten die internationalen Kritiker "Toni Erdmann" mit ihrem FIPRESCI-Preis aus. Nun startet Ades Film in Deutschland, und "Toni Erdmann" wird sogar zur besten Sendezeit im deutschen Fernsehen beworben.

Der titelgebende Toni Erdmann ist eine Erfindung einer der zwei Hauptfiguren in Maren Ades Film. Eingeführt wird sie bereits in der ersten Szene, als ein Paketbote bei Winfried Conradi (Peter Simonischek) klingelt. Der Alt-68er-Musiklehrer behauptet, das Päckchen sei für seinen Bruder. Wenige Momente später kann der Zuschauer feststellen, dass der "Bruder" eben derselbe Winfried Conradi mit schlechter Perücke und falschem Gebiss ist. Dieser ehemalige Lehrer verkleidet sich also gerne, beispielsweise als Clown. Als solcher taucht er auch bei seiner geschiedenen Frau auf, als seine Tochter Ines (Sandra Hüller) zu Hause in Aachen-Laurensberg der Familie einen kurzen Besuch abstattet. Von Anfang an wird eines deutlich: Das Verhältnis zwischen Vater und Tochter ist alles andere als harmonisch. Dass sie vorgibt zu telefonieren, obwohl es jedem klar ist, dass am anderen Ende der Leitung niemand ist, verdeutlicht ebenfalls: Ines kann es kaum erwarten, zurück nach Bukarest zu fahren, wo sie als Unternehmensberaterin arbeitet.

Bald darauf verliert Winfried nicht nur seinen letzten Klavierschüler, sondern auch noch seinen treuen Hund. Spontan entschließt er sich, seine Tochter in Bukarest zu besuchen. Er überrascht sie mit falschem Gebiss und Sonnenbrille in der Lobby ihrer Firma. Ines bleibt nichts anderes übrig, als ihren deplatzierten Vater zu Empfängen und sonstigen Terminen mitzunehmen. Weil es so keineswegs zur erhofften Annäherung an seine Tochter kommt, gibt Winfried vor abzureisen. Stattdessen verwandelt sich Winfried jedoch in Toni Erdmann. Er gibt sich als Coach aus und mischt sich in das Berufsleben seiner Tochter ein. Wie ein Hofnarr stellt er die Hochglanz-Businesswelt bloß.

Drehbuchautorin und Regisseurin Maren Ade versteht das Bloßstellen allzu wörtlich: Ein zum Zusammenhalt des Teams veranstalteter Brunch gerät zur frivolen Nackt-Party. Laut der Regisseurin macht dies Ines, "um etwas loszuwerden, ihre falschen Freunde, ihren Chef. Ines stellt fest, dass es gar nicht so einfach ist, etwas abzulegen oder ein Tabu zu brechen". Wenn alle Hüllen fallen, streift Ines nicht nur Anstandsnormen ab, sondern auch die Maske, die sie dauernd in der Businesswelt trägt. Allerdings: Muss eine solche Szene minutenlang ausgewälzt werden, während der mehrere Schauspieler nackt über die Leinwand huschen? Die Beklemmung, die Ines Chef Gerald (Thomas Loibl) oder ihre Assistentin Anca (Ingrid Bisu) bei dieser "tabulosen" Party ergreift, überträgt sich auf den Zuschauer. Gleiches gilt ebenfalls sowohl für eine äußerst vulgäre, in die Länge gezogene Sexszene zwischen Ines und ihrem Kollegen Tim (Trystan Pütter) als insgesamt auch für die Scherze des "Toni Erdmann", die mit der Zeit redundant wirken. Mit mehr als zweieinhalb Stunden Dauer ist Ades Film einfach viel zu lang. "Toni Erdmann" gestaltet sich eigentlich als ein Zwei-Personen-Stück, in dem es primär um ein schwieriges Vater-Tochter-Verhältnis geht. Ein zerrüttetes Verhältnis, das tiefer als der übliche Generationenkonflikt reicht: Ines berufliche Entscheidung für eine typisch neoliberale Karriere als Unternehmensberaterin nimmt sich als Gegenentwurf zur 68er-Ideologie ihres Vaters aus.

Damit übt "Toni Erdmann" darüber hinaus, ähnlich den deutschen Filmen "Zeit der Kannibalen" von Johannes Naber und Philip Kochs "Outside the Box", Kritik am Neo-Liberalismus. Beiläufig schildert Ades Film die geschlossene Welt von Consulting-Firmen, die zur Gewinnmaximierung für Massenentlassungen sorgen. Die internationale Ausrichtung solcher Unternehmen führt dazu, dass die Einsatzländer austauschbar werden. Mit ihrem Business-Englisch können sie zwar mit einer dünnen Business-Schicht im jeweiligen Land kommunizieren. Mit dem Großteil der Bevölkerung kommen allerdings Ines Conradi und ihre Kollegen niemals in Berührung. Dies hatte bereits "Zeit der Kannibalen" verdeutlicht. "Toni Erdmann" führt es besonders an zwei Stellen vor Augen.

Spiegelt Sandra Hüller die Zerrissenheit der widerstrebenden Gefühle als ein Eisberg von Geschäftsfrau wider, der irgendwann einmal schmilzt, so überzeugt insbesondere Peter Simonischek in seiner Doppelrolle, die Maren Ade so beschreibt: "Das Wichtigste für den Film und die Komik war, dass Toni ein echter Mensch sein musste, dass Winfried sichtbar bleiben musste. Toni durfte keine Fantasiefigur werden, der Film das Genre nicht wechseln. Winfried soll ja ein echter Mensch sein, der etwas spielt. Es ist schwer, als guter Schauspieler einen schlechten Schauspieler zu spielen." Peter Simonischek gestaltet Winfried als tragikomische Gestalt, Toni Erdmann als keine Peinlichkeit auslassende clowneske Figur, die freilich einen gewissen Charme besitzt, stets glaubwürdig.
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