KILL BILLY | Her er Harold
Filmische Qualität:   
Regie: Gunnar Vikene
Darsteller: Bjørn Sundquist, Björn Granath, Fanny Ketter, Lena-Pia Bernhardsson, Olaf Heggdal, Samuel Hellström, Andreas Hyttsten, Evert Lindkvist
Land, Jahr: Norwegen, Schweden 2014
Laufzeit: 88 Minuten
Genre:
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 6/2016
Auf DVD: 10/2016


José Garcia
Foto: NFP

Möbel sind für Harold Lunde (Bjoern Sundquist) viel mehr als Einrichtungsgegenstände. Seit mehr als vierzig Jahren betreibt er zusammen mit seiner Frau Marny (Grethe Selius) das Familienunternehmen Lunde Moebler in einer norwegischen Kleinstadt. Am Anfang des Spielfilmes von Drehbuchautor und Regisseur Gunnar Vikene "Kill Billy" ("Her er Harold") stehen Bilder ihrer Jahrzehnte zurückliegenden Hochzeit. Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeugen aber auch von einem über Generationen geführten Unternehmen. Nun leidet seine Frau Marny an Demenz, und noch eine weitere Katastrophe steht ins Haus: Direkt nebenan eröffnet eine große Filiale des schwedischen Möbel-Riesen IKEA. Sechs Monate später stehen die Verkaufsräume von Lunde Moebler leer. Harold und Marny müssen das Haus räumen. Die Entscheidung, ob Harold seine demente Frau lieber in ein Pflegeheim bringen soll, wird ihm abgenommen, als sie unerwartet stirbt. Auch Harold will sterben: Er versprüht alles, auch sich selbst, mit Möbelpolitur und will sich anzünden. Doch dann springt die Sprinkleranlage an. Wie etwa der ebenfalls verwitwete Ove in Hannes Holms "Ein Mann namens Ove" (siehe Filmarchiv) scheitert Harolds Selbstmordversuch.

Dann fasst der Verzweifelte einen Entschluss: Harold will Ingvar Kamprad (Björn Granath), den Gründer und Besitzer von IKEA, entführen. Einen Plan hat er zwar nicht, dafür aber wilde Entschlossenheit. Eine Waffe besorgt sich Harold eher zufällig, als er seinen Sohn Jan (Vidar Magnussen) in Oslo besucht. Jan arbeitet eigentlich als Journalist, scheint aber eher dem Alkohol als seinem Beruf zugetan zu sein. In Schweden angekommen, begegnet Harold einer 16-Jährigen, die von zu Hause ausgerissen ist: Ebba (Fanny Ketter) hält es bei einer Mutter nicht mehr aus, die den ganzen Tag nur noch trinkt und darüber hinaus von einer Männerbekanntschaft in die nächste fällt. Dafür findet sie irgendwie Interesse an Harolds Entführungsplänen. Nachdem er sich zunächst einmal in der Adresse des IKEA-Gründers irrt, was zu einer urkomischen Szene mit einem konsterniert dreinschauenden älteren Ehepaar führt, trifft er ganz zufällig auf Ingvar Kamprad. Nun bilden die zwei alten Männer und das junge Mädchen eine Schicksalsgemeinschaft. Weiß Harold noch immer nicht, was er mit dem Entführten anfangen soll, so kommt dem IKEA-Chef die Entführung nicht ganz ungelegen, kann sie doch dazu verhelfen, seine durch vergangene (Kontakte zu Nazi-Deutschland) und aktuelle (Kinderarbeit) Imageverluste ramponiertes öffentliches Bild zu bessern. Darüber hinaus entdeckt Kamprad nach und nach, dass Lunde und er gar nicht so verschieden sind.

Der norwegische Regisseur Gunnar Vikene adaptiert für seinen Spielfilm "Kill Billy" den Roman "Ein ehrliches Angebot" von Frode Grytten. Zum Verhältnis zwischen Romanvorlage und seinem Drehbuch erläutert Gunnar Vikene: "In Bezug auf die Dramaturgie ist das Gryttens klassischster Roman mit einem stringent aufgebauten Text. In vielerlei Hinsicht hat das Original eine ziemlich nostalgische Sprache. Grytten versucht darin, auch etwas über die Wegwerfgesellschaft zu erzählen, in der Konsum eine der wichtigsten Triebkräfte ist. Beim Schreiben an dem Drehbuch habe ich mich entschlossen, diesen Aspekt etwas abzuschwächen. Für mich hat der existenzielle Kern von Ein ehrliches Angebot eine größere Bedeutung. Der liegt in der Geschichte eines Menschen, der alles verloren hat außer einer grimmigen Entschlossenheit, seinem Leben wieder einen Sinn zu geben. Tief bewegend, zutiefst menschlich. Grausam fatalistisch. Verstörend wahrhaftig. Und sehr unterhaltsam."

Vikenes Film überzeugt insbesondere durch das Porträt eines Mannes, der nach der Zerstörung seines Lebenswerks aus der Resignation ausbricht und zu einer verzweifelten Tat greift. Leider verwendet Vikene nicht die gleiche Sorgfalt auf die Figurenzeichnung von Ingvar Kamprad, den er lediglich als kauzigen alten Mann schildert, der mit eigenwilligen Methoden sein Möbel-Imperium aufgebaut hat. Auch aus der Tatsache, dass sich die beiden Alten mehr ähneln als auf den ersten Blick ersichtlich, schlägt Regisseur Gunnar Vikene viel zu wenig Kapital. Selbst wenn die Dramaturgie zum Stocken kommt, weil sich nach der Entführung die Situation ziemlich verfahren darstellt, hilft sich Regisseur Vikene mit Situationskomik darüber hinweg. Dies zeigt sich nicht nur in der bereits angesprochenen Szene mit der falschen Anschrift, als Harold in das Haus eines ahnungslosen Ehepaars einbricht, sondern etwa auch bei einem Ausbruchsversuch des IKEA-Gründers, der auf einem gefrorenen See jäh zum Stehen beziehungsweise Sinken kommt. Neben der schönen schneebedeckten, unendlich scheinenden Landschaft, die Kameramann Simon Pramsten in schönen Bildern wiedergibt, und der aussagekräftigen Filmmusik überzeugen die Rededuelle zwischen den beiden alten Männern, in denen ein lakonische Humor nach bester skandinavischer Manier zum Ausdruck kommt.

"Kill Billy" erzählt aber auch nicht nur vom Alkoholproblem in den skandinavischen Ländern, sondern auch von den Generationsunterschieden. Denn der Alkoholmissbrauch betrifft die mittlere Generation, Ebbas Mutter und Harolds Sohn. Sowohl Harold als auch Ebba reagieren darauf mit Abscheu. Gunnar Vikenes Film setzt darüber hinaus einer Generation ein filmisches Denkmal, die bei allen Unterschieden etwa zwischen Harold Lunde und Ingvar Kamprad etwas gemeinsam hat: Sie haben ihr Leben lang gearbeitet und damit etwas geschaffen. Harolds Wut erklärt sich gerade deshalb, weil sein Lebenswerk zerstört wurde.
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