ARARAT | Ararat
Filmische Qualität:   
Regie: Atom Egoyan
Darsteller: David Alpay, Charles Aznavour, Arsinée Khanjian, Christopher Plummer, Marie-Josée Groze, Eric Bogosian, Bruce Greenwood, Elias Koteas
Land, Jahr: Kanada 2002
Laufzeit: 116 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: G, X


JOSÉ GARCÍA
Foto: Kool Filmdistribution

Atom Egoyan wurde international bekannt mit „Das süße Jenseits“ („The Sweet Hereafter“, 1997), einem Film über die Auseinandersetzung mit einem tragischen Vorfall. „Das süße Jenseits“ gewann den Großen Preis der Jury und den Preis der Internationalen Filmkritik in Cannes; er wurde darüber hinaus für zwei Oscars nominiert.

Egoyans neues Filmwerk „Ararat“ thematisiert die Erinnerung – die Auseinandersetzung seitens einer späteren Generation – mit einer Tragödie ungleich viel größeren Ausmaßes: dem Völkermord an den Armeniern durch die jungtürkische Regierung im Jahre 1915, der zugleich eine der größten Christenverfolgungen des 20. Jahrhunderts darstellte. Der armenisch-kanadische Regisseur bezeichnet „Ararat“ als „ein zutiefst persönliches Werk“: Atom Egoyans Familie floh von Ägypten nach Kanada infolge der Armenier-Verfolgung durch Nasser.

Entsprechend seiner primären Zielsetzung, die Reflexion über den Genozid in der heutigen Zeit – Verleugnung und Missdeutung der Ereignisse auf türkischer Seite, Kampf um Anerkennung auf armenischer Seite – anzuregen, verwendet Egoyan keine lineare Erzählweise des Genozids, wie etwa Franz Werfel in seinem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“. Regisseur und Drehbuchautor Atom Egoyan verknüpft äußerst intelligent mehrere Handlungsstränge miteinander: das Verweben unterschiedlicher Zeitschichten hinterlässt beim Zuschauer einen besonders eindringlichen Eindruck.

Die unterschiedlichen Erzählfäden werden vor allem durch eine Filmfigur und eine historische Gestalt miteinander verbunden. Die äußere Klammer liefert die Filmfigur: der kanadische Zollbeamte David (Christopher Plummer), der unter der Homosexualität seines Sohnes sichtlich leidet und sich um die religiöse Erziehung seines Enkelkindes bemüht. Am letzten Tag vor seiner Pensionierung hält er den jungen Raffi (David Alpay) auf, der aus der Türkei mit Filmdosen einreist. Beim Verhör erzählt Raffi vom Filmprojekt des berühmten armenischen Regisseurs Edward Saroyan (Charles Aznavour), einen Spielfilm über die erbitterte Verteidigung des Berges Ararat und über die Vernichtung der Stadt Van zu drehen. So gestaltet „Ararat“ den eigentlichen Völkermord als „Film im Film“, was erzählerisch neue Möglichkeiten bietet: in ihrer teilweise drastischen Grausamkeit erhalten die auf den Erinnerungen von Clarence Usshers Augenzeugenbericht „Ein amerikanischer Arzt in der Türkei“ basierenden Bilder des „Films im Film“ eine noch verstärkende Wirkung durch die Verfremdung, die aus dem Vorlesen aus dem Drehbuch resultiert.

Die innere Verbindung zwischen den verschiedenen Zeiten und Erzählebenen hält indes eine historische Gestalt: Arshile Gorky, der in der Kunstgeschichte eine Schlüsselrolle spielte, schlug er doch eine Brücke zwischen der europäischen und der amerikanischen Kunst. Gorky gilt als Wegbereiter der ersten authentisch amerikanischen Kunstrichtung, des Abstrakten Expressionismus. In „Ararat“ begegnet Gorky im „Film im Film“ als Jugendlicher, der sich mit seiner Mutter porträtieren lässt, sowie als Künstler, dem zwanzig Jahre später in New York dieses Porträt als Vorlage für ein Schlüsselwerk dient. In der Jetztzeit spielt Gorky durch dieses Gemälde eine zentrale Rolle: die Kunsthistorikerin und Raffis Mutter Ani (Egoyans Frau Arsinée Khanjian) gilt als Gorky-Expertin, weshalb sie als Beraterin für den „Film im Film“ engagiert wird.

Obwohl eine solche Fülle an Erzählebenen und -fäden eine gewisse Überfrachtung mit sich bringt – etwa durch die Liebesgeschichte zwischen Raffi und Sofie (Marie-Josée Croze), die eine völlig unzusammenhängende Sexszene in den Film hineinschmuggelt –, entfaltet Atom Egoyan ein virtuoses Spiel über Zeitebenen hinweg. Dafür stand ihm ein hervorragendes Schauspielerensemble: Christopher Plummer, Arsinée Khanjian, Charles Aznavour und Elias Koteas sowie ein großartiger Filmsoundtrack zur Verfügung.

Auf einer weiteren Ebene handelt „Ararat“ auch von der Mutter-Sohn- sowie von der Vater-Sohn-Beziehung: Zollbeamter David und sein Sohn Philipp sowie Ani und ihr Sohn Raffi stehen für auseinander brechende Familien, die im Laufe der Beschäftigung mit den historischen Ereignissen und insbesondere mit der Beziehung Arshile Gorkys zu seiner im Massaker umgekommenen Mutter eine bedeutende Entwicklung durchmachen. Insofern besitzt das Mutter- Gottes-Relief mit ihrem göttlichen Sohn auf dem Schoß, das in „Ararat“ eine Schlüsselstellung einnimmt, auch symbolischen Charakter.

„Ararat“ ist keine plakative Anklage des Völkermords an den Armeniern. In seiner mehrmals gebrochenen Reflexion der leisen Töne erweitert der Spielfilm jedoch den Horizont des Genozids: „Ararat“ hält nicht nur die Erinnerung an den Völkermord wach, sondern klagt auch jedwede Art von Geschichtsklitterung an.
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