SON OF SAUL | Son of Saul
Filmische Qualität:   
Regie: László Nemes
Darsteller: Géza Röhrig, Marcin Czarnik, Levente Molnár, Urs Rechn, Todd Charmont, Jerzy Walczak, Sándor Zsótér, Uwe Lauer, Christian Harting, Amitai Kedar, Kamil Dobrowolski
Land, Jahr: Ungarn 2015
Laufzeit: 107 Minuten
Genre:
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: G
im Kino: 3/2016
Auf DVD: 7/2016


José García
Foto: Sony

Eine Schrifttafel erklärt zu Beginn des Spielfilms von László Nemes "Son of Saul", was es mit den sogenannten Sonderkommandos in einem Vernichtungslager auf sich hatte: Abgesondert vom Rest des Lagers muss eine Gruppe von zumeist jüdischen Gefangenen die Aufgabe übernehmen, bei den Massenvernichtungen mitzuhelfen und die Leichenberge in den Krematorien zu verbrennen. Für diese Tätigkeit bekommen sie eine vergleichsweise gute Versorgung. Doch ihre in den menschenverachtenden, von SS-Leuten überwachten Arbeitsauflauf eingebundene Tätigkeit war von Anfang an zeitlich begrenzt.
Die Sonderkommando-Mitglieder wussten, dass diese "Arbeit" für sie lediglich einen Aufschub der eigenen Vernichtung bedeutete. Zu einem solchen Sonderkommando gehört im Herbst 1944 der ungarische Jude Saul Ausländer (Geza Röhrig). Die unter den gebrüllten Befehlen der SS-Aufseher in Schnelltempo ausgeführte Tätigkeit des Sonderkommandos: Die Kleidungsstücke der gerade in der Gaskammer Getöteten einsammeln und sie nach Schmuck oder anderen Wertgegenständen absuchen. Dann die Toten aus der Gaskammer herausholen, sie ebenfalls etwa nach Goldzähnen absuchen, die Gaskammer säubern ... Denn der nächste Transport folgt unmittelbar. Diese Beteiligung an den Gräueltaten der Nazis haben bei den Mitgliedern der Sonderkommandos Spuren hinterlassen: Auf ihren Gesichtern ist keine Regung mehr zu spüren. Womöglich treibt sie nur noch ein einziger Gedanke: So lange wie möglich selbst zu überleben.

Als Saul eines Tages einen Jungen sieht, der zwar das Vergasen überlebt hat, aber von einem SS-Arzt erstickt wird, treibt ihn nur noch der eine Gedanke: Die Leiche des Jungen nicht den Flammen des Krematoriums überlassen. Er möchte den Jungen rituell begraben - als wäre er sein eigener Sohn. Diese Tat der Menschlichkeit mitten im Irrsinn des industriemäßigen Mordens stellt sich für Saul wohl als eine Art moralische Erlösung dar. Von nun an sucht er verzweifelt im ganzen Lager nach einem Rabbi, der ihm bei der Beerdigung hilft, alles richtig zu machen. Sein mit kompromissloser Entschiedenheit verfolgtes Vorhaben gefährdet allerdings die Pläne einer Gruppe von Sonderkommando-Mitgliedern, die einen Aufstand vorbereiten. Tatsächlich kam es in Auschwitz-Birkenau am 8. Oktober 1944 zu einem Aufstand des Sonderkommandos, bei dem ein Krematorium zerstört wurde.

"Son of Saul" zeichnet sich nicht so sehr durch die an sich schon außergewöhnliche Handlung, als vielmehr durch eine spezielle Inszenierung aus. Mit-Drehbuchautor und Regisseur László Nemes dreht seinen Film im alten 4:3-Format, so dass das Bild quadratisch und eingeengt wirkt. Die Kamera von Mátyás Erdély zeigt darüber hinaus meistens Saul in Großaufnahme. Alles andere, was um ihn herum geschieht, sieht der Zuschauer kaum und zumeist unscharf. So etwa auch bereits in der ersten Szene von ?Son of Saul?: Das Bild bleibt unscharf, während im Hintergrund eine Menschengruppe lediglich verschwommen zu sehen ist. Aus dieser Menge löst sich ein Mann, der immer näher zur Kamera kommt, die ihn endlich in Großaufnahme in normaler Schärfe zeigt. Die Kamera wird während des ganzen Filmes unmittelbar an Saul Ausländer bleiben.

Dadurch nimmt der Zuschauer immer wieder nur kleine Ausschnitte aus dem Vernichtungslager wahr: der Vorraum, wo die Kleider der Vergasten hängen, die Tür zur Gaskammer, die Öfen, wo die Leichen hineingeschoben werden, die Asche, die in den Fluss hineingeworfen wird, kurz die Gruben, vor denen Menschen erschossen werden... Das Grauen wird kaum explizit gezeigt, und dennoch liefert "Son of Saul" genug Ausschnitte, damit der Zuschauer diese Scheußlichkeiten im Kopf zusammenstellen kann. Der Film verweigert den Überblick über das Vernichtungslager. Selbst die Kampfhandlungen nach dem Aufstand werden sehr bruchstückhaft dargestellt.

Die Fantasie des Zuschauers wird insbesondere von der meisterhaften Tonspur angeregt: Zu den Schreien und dem verzweifelten Klopfen der in der Gaskammer Eingeschlossenen gesellen sich die Befehle der SS-Aufseher ("schneller, schneller") und die Gesprächsfetzen der Sonderkommando-Mitglieder, die von der Suche nach Gold und von den Vorbereitungen auf den Aufstand handeln. In einigen Sequenzen verdeutlicht László Nemes durch die Verknüpfung der bruchstückhaften Bilder und der Tonspur die totale Willkür, der die Sonderkommando-Mitglieder unterworfen sind. So etwa als Saul von einem Kapo zum Mitkommen aufgefordert, dann aber von einem SS-Oberscharführer in Anspruch genommen wird ("Du, komm mit!"), dann von einem anderen Kapo zum Kohleschaufeln aufgefordert wird, ehe der erste Oberkapo ihn wieder findet ("Komm, komm!"). Dieses Herumgeschobenwerden und Sauls rastlose Suche nach einem Rabbi eröffnet allerdings einen Blick auf die diversen Teile des Vernichtungslagers - von der Gaskammer über die Krematorien und das Obduktionszimmer bis hin zu den Werkstätten, den Gruben und den Flussstellen, an denen die Asche der Getöteten in die Weichsel geworfen wird.
"Son of Saul" ist ein Film, der lange in Erinnerung bleibt. Einerseits, weil solche Bilder eines Vernichtungslagers in einem Film noch nie auf diese Art und Weise gezeigt wurden. Andererseits aber auch, weil László Nemes die moralische Reaktion, die Regung der Menschlichkeit in einem Einzelnen mitten in der Barbarei vorführt.
"Son of Saul" gewann den Großen Preis der Jury beim Internationalen Filmfestival Cannes 2015 sowie einen Golden Globe und jüngst den Oscar 2016 als "bester nichtenglischsprachiger Film".
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