ICH HABE KEINE ANGST | Io non ho paura
Filmische Qualität:   
Regie: Gabriele Salvatores
Darsteller: Sánchez-Gijón, Dino Abbrescia, Giuseppe Cristiano, Diego Abatantuono
Land, Jahr: Italien, Spanien, Großbritannien 2002
Laufzeit: 109 Minuten
Genre: Thriller
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: -


JOSÉ GARCÍA
Foto: Kinowelt

Spielfilme, die von Kindern handeln, müssen nicht zwangsläufig auch Kinderfilme sein. Besonders ausgeprägt findet sich dieses Subgenre der Filme über Kinder, die Erwachsene zum Nachdenken anregen sollen, im iranischen Kino. So schilderte etwa Samira Makhmalbafs Regiedebüt „Der Apfel“ (1998) das Leben von jungen Zwillingsschwestern, die in ihrem Elternhaus eingesperrt leben und aus dieser Enge auszubrechen versuchten. Majid Majidis „Kinder des Himmels“ (2000) erzählte vom neunjährigen, aus ärmsten Verhältnissen stammenden Ali, der die Schuhe seiner jüngeren Schwester Zahra verloren hatte und sich nun mit ihr seine Sportschuhe teilen musste.

Auch im Mittelpunkt der Geschichte von „Ich habe keine Angst“ („Io non ho paura“) steht zwar ein Kind. Genauso wie „Der Apfel“ oder „Kinder des Himmels“ wendet sich der Spielfilm des italienischen Regisseurs Gabriele Salvatores jedoch an Erwachsene. Auf ein schreckliches Geheimnis stößt der neunjährige Michele, als er während des heißen Sommers des Jahres 1978 in einem verlassenen Gutshof im süditalienischen Apulien ein getarntes Loch im Erdboden entdeckt. Furcht und Neugier halten sich zunächst die Waage, doch dann gewinnt die Neugier die Oberhand: Michele lugt hinein – und schreckt sofort auf, als dort unten urplötzlich aus der Dunkelheit eine menschenähnliche Gestalt aufzuleuchten scheint.

Regisseur Gabriele Salvatores setzt dieses in bester Hichtcock-Tradition spannungsgeladene Element an den Anfang seines aus der Perspektive eines Neunjährigen gefilmten Spielfilms „Ich habe keine Angst“, für den Niccolò Ammaniti seinen eigenen Roman „Die Herren des Hügels“ adaptiert hat. In der Tat wird in diesem unterirdischen Versteck ein ebenfalls neunjähriger, völlig verwahrloster Junge gefangen gehalten, der verwirrt davon stammelt, er sei bereits tot. Michele muss seine Angst überwinden, um den Gefangenen mit Lebensmitteln zu versorgen.

Die Entdeckung des verwilderten Kindes stellt Michele und den Zuschauer, der das Geschehen auf Augenhöhe mit dem Neunjährigen verfolgt, vor schwierige Fragen: lässt an diesem verlassenen Ort das unwirtliche Umfeld Realität und Fantasie verschmelzen? Existiert dieser Junge außerhalb der Einbildung Micheles überhaupt? Gegenüber dieser beinahe metaphorischen Ebene, auf die „Ich habe keine Angst“ den Zuschauer zunächst geführt hat, fällt die Auflösung des Rätsels ernüchternd, sogar etwas banal aus: es handelt sich um die Entführung des Sohnes eines Unternehmers aus dem reichen Norden. Sämtliche Bewohner des süditalienischen Fleckchens sind in diese abscheuliche Tat, mit der sie aus ihrer Armut herauszukommen hoffen, verstrickt.

„Ich habe keine Angst“ thematisiert also eine genuin italienische Situation: den Gegensatz zwischen dem kargen, landwirtschaftlich geprägten, armen Süden und dem industrialisierten, reichen Norden. Der Regisseur, der im Jahre 1992 mit „Mediterraneo“ den Oscar für den besten nicht-englischsprachigen Film gewann, kennt den Nord-Süd-Gegensatz aus eigener Anschauung: 1950 in Neapel geboren, lebt er seit den siebziger Jahren in Mailand.

Die von Salvatores konsequent aus dem Blickwinkel eines Kindes geschilderte Story handelt indes in erster Linie vom Ende des unschuldigen Blicks eines Kindes auf die Welt der Erwachsenen. Visuell gelingt dem Film dieser kindliche Blick dadurch, dass die Kamera immer auf Micheles Augenhöhe bleibt. Trotz der teilweise symbolischen Überfrachtung und eines überdeutlichen Soundtracks hebt „Ich habe keine Angst“ den Mut eines Kindes hervor, das aus Solidarität mit einem andersartigen, aber schwachen Gleichaltrigen nicht nur seine Furcht besiegt, sondern sich darüber hinaus gegen die eigene Umgebung behauptet.
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