IRRATIONAL MAN | Irrational Man
Filmische Qualität:   
Regie: Woody Allen
Darsteller: Joaquin Phoenix, Emma Stone, Parker Posey, Jamie Blackley, Meredith Hagler, Ben Rosenfield
Land, Jahr: USA 2015
Laufzeit: 97 Minuten
Genre: Komödien/Liebeskomödien
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: D, X-
im Kino: 11/2015
Auf DVD: 3/2016


José García
Foto: Warner Bros.

Auch knapp einen Monat vor seinem 80. Geburtstag am 1. Dezember legt Woody Allen weiterhin alljährlich einen Spielfilm vor. Nun startet im regulären Kinoprogramm sein 46. Film „Irrational Man“, der auf dem Filmfestival Cannes uraufgeführt wurde. Bei solchem Arbeitsrhythmus, der wenigstens in der neueren Filmgeschichte seinesgleichen sucht, kann kaum verwundern, dass die selbstverfassten Drehbücher meistens von einem einzigen Kerngedanken ausgehen – manchmal von einem genialen Kerngedanken. Allerdings reicht auch dies nicht immer für einen abendfüllenden Spielfilm aus. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: „Schmalspurganoven“ („Small Time Crooks“, 2000) dreht sich um eine skurrile Idee. Eine Gruppe Möchtegern-Bankräuber benutzt ein leerstehendes Lokal als Tarnung, um von dort aus einen Tunnel bis zum Banktresor zu bohren. Um der Tarnung einen glaubwürdigen Anstrich zu geben, werden dort Cookies verkauft. Der Kuchenverkauf schlägt so ein, dass die Gangster damit mehr Geld einnehmen als mit dem Bankraub. In dieser Anekdote erschöpft sich indessen das ganze Drehbuch – trotz aller Genialität eher mager für einen 90-minütigen Film.

Vielleicht liegt es am eher oberflächlichen Thema. Ganz anders, wenn Woody Allen tiefergreifende Fragen behandelt, so etwa in „Match Point“ (2005). Auch hier ist der Plot im Kern simpel: Tennislehrer aus einfachen Verhältnissen heiratet in die bessere Gesellschaft ein. Aber er hat noch eine Geliebte, die sich nicht einfach abschütteln lässt. Als diese von ihm schwanger wird, trifft er eine furchtbare Entscheidung: Er bringt sie um und lässt ihren Tod als Kollateralschaden eines Überfalls erscheinen. Gefasst wird er nur wegen eines kleinen Zufalls nicht. In „Match Point“ erzählt Woody Allen atmosphärisch dichter als in seinen Komödien, so dass der Film über die gesamte zweistündige Dauer eine stimmige Dramaturgie besitzt.

In „Irrational Man“ finden sich einige Elemente aus „Match Point“ wieder. Die Grundidee lässt sich ebenfalls kurz zusammenfassen: Depressiver, alkoholabhängiger Philosophieprofessor, der eigentlich keinen Grund mehr zum Weiterleben findet, blüht wieder auf, nachdem er ein in seinen Augen moralisch vertretbares Verbrechen begangen hat.
„Irrational Man“ beginnt mit zwei Off-Stimmen, die zwei Perspektiven derselben Handlung bieten: Einerseits die von Professor Abe Lucas (Joaquin Phoenix), der eine Stelle an einer kleinen Universität antritt. Die zweite gehört der Studentin Jill Pollard (Emma Stone), die bald in Professor Lucas Leben eine wichtige Rolle einnehmen wird. Bereits jetzt wird deutlich, dass Abe Lucas ein Alkoholproblem hat. Seine Vorlesungen zeichnen sich darüber hinaus durch Zynismus aus, obwohl er hin und wieder auch solche Sätze spricht: „Kierkegaard war Christ. Das wäre schön“. Er selbst aber sieht sich als Agnostiker.

Erstaunlicherweise kommt der stets Übelgelaunte bei den Frauen gut an. Chemieprofessorin Rita (Parker Posey) möchte aus ihrer Ehe ausbrechen und wirft sich Abe an den Hals. Auch die junge Studentin Jill hat mehr als wissenschaftliches Interesse bei ihren immer häufiger und länger werdenden Gesprächen, obwohl Abe immer wieder betont, dass er keine Affäre mit einer Studentin beginnen möchte. Als Studentin und Professor in einem Restaurant sitzen, kommt es zum entscheidenden Zufall: Am Tisch nebenan ist die Rede von einem gewissenslosen Richter, der eine Frau ins Unglück stürzen wird. Abe Lucas entscheidet, selbst tätig zu werden. Wenn er den Richter ausschaltet, wird er sicher ein gutes Werk tun. Außerdem empfindet er einen besonderen Kick darin, das „perfekte Verbrechen“ zu begehen. Und nun bekommt das Leben für den Zyniker einen neuen Sinn. Auf einmal ist er gut gelaunt und antriebsstark. Von seinen Plänen erzählt er Jill natürlich nichts.

Bis es zu dieser einschneidenden Begegnung kommt mäandert jedoch die Handlung viel zu lange. Obwohl nicht nur Joaquin Phoenix, sondern auch Emma Stone und Parker Posey ihren Figuren Leben einhauchen und der Film eine Reihe Gags auf Lager hat, wirkt der Film zu repetitiv. Dies ändert sich jedoch nach der angesprochenen zufälligen Begegnung. Woody Allen schafft es, einen regelrechten Kriminalfall mit viel Humor zu verknüpfen, wozu die ausgesuchten Bilder des Kameramanns Darius Khondji, der seit zwölf Jahren so gut wie alle Woody-Allen-Filme fotografiert, und die beschwingte Jazz-Musik wesentlich beitragen.
Das Motiv des „moralisch vertretbaren Mords“ ist Dostojewskis großem Roman „Schuld und Sühne“ (in der Neuübersetzung „Verbrechen und Strafe“) entnommen, bei dem der ehemalige Student Raskolnikow zufällig in einem Wirtshaus ein Gespräch belauscht und daraus die Idee eines „erlaubten Mordes“ entwickelt. Dostojewskis Roman diente Woody Allen bereits in „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“ (1989) und dem erwähnten „Match Point“ (2005) als Inspiration. Zeichnete sich „Match Point“ durch einen düsteren Ernst aus, so verlegt Allen in „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“ die humoristische Seite in eine Parallelhandlung. In „Irrational Man“ ist die tragische Handlung mit überzeichneten Situationen durchsetzt. Regisseur Allen gelingt es, am Ende den Zuschauer zu überraschen, wobei auch hier der Zufall keine unbedeutende Rolle spielt und für die Wiederherstellung der moralischen Ordnung sorgt.

„Irrational Man“ ist der letzte Film mit Jack Rollins als Produzenten. Rollins, der seit 1969 so gut wie alle Woody-Allen-Filme produzierte, starb im Juni im Alter von 100 Jahren.
Diese Seite ausdrucken | Seite an einen Freund mailen | Newsletter abonnieren