ESCOBAR – PARADISE LOST | Escobar - Paradise Lost
Filmische Qualität:   
Regie: Andrea di Stefano
Darsteller: Benicio del Toro, Josh Hutcherson, Claudia Traisac, Brady Corbet, Ana Girardot, Carlos Bardem, Laura Londoño
Land, Jahr: Frankreich, Spanien, Belgien, Panama 2014
Laufzeit: 114 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: G
im Kino: 7/2015
Auf DVD: 11/2015


José García
Foto: Alamode

Medellín, am Abend des 18. Juni 1991. Pablo Escobar (Benicio del Toro) will sich am nächsten Tag der kolumbianischen Justiz stellen, nachdem sie ihm versprochen hat, ihn nicht an die Vereinigten Staaten auszuliefern („Lieber ein Grab in Kolumbien als eine Gefängniszelle in den Vereinigten Staaten.“). In seinem Spielfilmdebüt „Escobar – Paradise Lost“ erzählt Drehbuchautor und Regisseur Andrea di Stefano jedoch nicht die Geschichte von Pablo Escobar (1949–1993), dem wohl größten Rauschgifthändler Kolumbiens, dem berüchtigten Begründer des Kartells von Medellín. Im Mittelpunkt steht vielmehr Nick (Josh Hutcherson), der (fiktive) kanadische Mann von Escobars Lieblingsnichte Maria (Claudia Traisac). „Nico“ wird an diesem Abend zum Drogenboss gerufen: Er gehört zu der Handvoll Vertrauter, die Escobars immenses Vermögen für die Zeit „danach“ verstecken soll. Nick soll einen Teil davon in eine stillgelegte Mine bringen. Der Bauer, der ihn dorthin führen wird, muss als unliebsamer Zeuge anschließend aus dem Weg geräumt werden – dadurch soll Nick seinem „Onkel Pablo“ seine Loyalität beweisen.

Nun springt der Film „einige Jahre früher“ zurück. Nick und sein Bruder Dylan (Brady Corbet) sind aus Kanada an die kolumbianische Küste gekommen, um ihren Paradiestraum mit einer Surfschule auszuleben. Bald lernt Nick die schöne Maria (Claudia Traisac) kennen und lieben. Maria arbeitet beim Aufbau eines Krankenhauses, das ihr verehrter Onkel Pablo Escobar finanziert. Denn er präsentiert sich gerne als Wohltäter des einfachen Volkes, der Krankenhäuser und Schulen baut (der echte Escobar wurde 1982 zum stellvertretenden Abgeordneten gewählt). Bei Pablos Geburtstag, den Di Stefano als Inbegriff des „Mafioso-Festes“ inszeniert, lernt Nick den mächtigen Onkel seiner Freundin kennen. Bereits zu diesem Zeitpunkt ereignet sich etwas, was Nick nachdenklich macht: Er erzählt Escobar ganz ohne Hintergedanken von einem Überfall der lokalen Halbstarken auf die Hütte, in der er mit seinem Bruder Dylan lebt. Bald darauf sind diese Rowdys tot. Dabei lernt Nick auch Escobars durchtriebene Methoden kennen: Auf seine Gewissensbisse antwortet der Drogenboss, indem er den jungen Mann zum Mitwisser macht.

Nach seiner Hochzeit mit Maria wird der junge Kanadier in Pablos Familie willkommen geheißen. Der junge „Gringo“ arbeitet nun auf Pablos Farm, wo sich der nette Onkel als jovialer Familienmensch zeigt. Die andere Seite des Drogenbosses, die in ganz Kolumbien für Tausende von Morden verantwortlich war, erschließt sich dem naiven jungen Mann erst allmählich – etwa, wenn er beobachtet, wie sich Pablos Angestellte Blut vom Körper waschen. Als der Drogenkrieg eskaliert und die kolumbianische Regierung den Druck auf Escobar erhöht, muss dieser untertauchen und von einem Versteck zum nächsten ziehen. Auch seine Familie einschließlich Maria und Nick tauchen unter. Irgendwann einmal fassen Nick und Maria den Entschluss, nach Kanada auszureisen. Just in dem Augenblick, als sie sich am 18. Juni 1991 für die Reise bereit machen, kommt der Anruf, der ihn zu Onkel Pablo bestellt.

Andrea Di Stefano zeigt Escobar, der 80 Prozent des internationalen Kokainmarktes kontrollierte, stets aus Nicks Perspektive. Zunächst einmal erscheint der junge Kanadier als Beobachter. Benicio del Toro verkörpert bestechend die zwei Seiten des Drogenbosses, das liebevolle Clan-Oberhaupt auf der einen, den skrupellosen Mörder auf der anderen Seite, der Menschen umbringen lässt, ohne mit der Wimper zu zucken – letztlich einen gewalttätigen Machtmenschen, der von seinem Tun selbst überzeugt ist, was etwa in seinen Wohltätigkeitsveranstaltungen zum Ausdruck kommt.

In der zweiten Filmhälfte, in der Di Stefano seine Fähigkeit als Regisseur für Action- und Thriller-Szenen sowie für die Schaffung von Atmosphäre unter Beweis stellt, rückt Nick immer mehr in den Mittelpunkt. Und mit ihm auch die moralische Zwickmühle, in der sich der junge Mann befindet. Denn inzwischen ist er in Pablos Familie so sehr integriert, dass der Drogenboss von ihm Ehrlichkeit und Loyalität einfordert. Ob dies auf Gegenseitigkeit beruht, kann jedoch Nick nur schwer beurteilen. Josh Hutcherson gestaltet den jungen Kanadier mit einer Mischung aus anfänglicher Bewunderung und zunehmender Verwirrung, als er nach und nach Einblick in Escobars Methoden gewinnt. In der Verknüpfung der Innen- und Außensicht auf Pablo Escobar gewinnt „Pablo Escobar – Paradise Lost“ nicht nur an Tempo, sondern auch an Tiefgang.

Trotz seines Titels ist „Escobar – Paradise Lost“ keine Filmbiografie über den Drogenboss und auch kein Gangsterfilm im eigentlichen Sinne. Als Höhepunkt des Films stellt sich die Konfrontation zwischen den zwei höchst unterschiedlichen Figuren heraus, während die Liebesgeschichte zwischen Nick und Maria durchaus unterentwickelt bleibt. In der Faszination, die der charismatische Drogenboss auf den jungen Kanadier ausübt, aber auch in der abstoßenden Art, wie Escobar auf Nick Druck ausübt, werden die zwei Seiten des Pablo Escobar deutlich. Zusammen mit einigen religiösen Bezügen macht die Gegenüberstellung der zwei Hauptfiguren aus „Escobar – Paradise Lost“ einen Film über menschliche Abgründe, aber auch über das moralische Dilemma, in dem Nick gefangen zu sein scheint. Ob er sich aus der Umklammerung des „Onkels“ befreien kann oder sich in ein unabwendbares Schicksal fügen muss, erweist sich über den reinen Thriller hinaus als die eigentliche Frage in Andrea di Stefanos Film.
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