VICTORIA | Victoria
Filmische Qualität:   
Regie: Sebastian Schipper
Darsteller: Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yigit, Max Mauff, André M. Hennicke, Anna Lena Klenke
Land, Jahr: Deutschland 2015
Laufzeit: 140 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 6/2015
Auf DVD: 11/2015


José García
Foto: Senator

Victoria (Laia Costa) wollte Klavierspielerin werden. Weil sich diese Möglichkeit zerschlug, ist die junge Spanierin vor wenigen Wochen von Madrid nach Berlin gezogen. Ohne Deutsch zu können, fällt es ihr nicht leicht, in der deutschen Hauptstadt Menschen kennenzulernen. In einem Club lernt sie vier Berliner Jungs kennen: Sonne (Frederick Lau), Boxer (Franz Rogowski), Blinker (Bural Yigit) und Fuß (Max Mauff). Für Victoria und Sonne ist es Liebe auf den ersten Blick. Aber Sonne und die andern haben noch eine Schuld zu begleichen, weswegen sie eine Bank überfallen müssen. Victoria lässt sich allzu gerne als Fahrerin anwerben. Nach dem Probelauf beim zwielichtigen Andi (André M. Hennicke) in einer Tiefgarage machen sie sich dann in den frühen Morgenstunden auf den Weg zur Bank.

Sebastian Schipper drehte den Spielfilm „Victoria“ ohne einen einzigen Schnitt, also in einer mehr als zweistündigen Plansequenz. Ein ziemliches Wagnis. Denn alles – vom Ablauf der Handlung über die richtigen Kameraeinstellungen bis hin zu den Stimmungen der Charaktere – musste ineinander greifen. Drei Wochen lang probte Regisseur Schipper mit seinen Hauptdarstellern. Der gesamte Film wurde dann dreimal aufgenommen. Der dritte Durchlauf ist nun der fertige Film „Victoria“. Was als experimenteller Selbstzweck angesehen werden könnte, erweist sich als Möglichkeit, bei den Figuren immer sehr nah zu sein, wobei Kameramann Sturla Brandth Groevlen eine wahre Meisterleistung liefert. Zwar nimmt sich die erste Stunde des Filmes etwas gemächlich aus. Dadurch werden aber dem Zuschauer die Charaktere nähergebracht. Dann wird er regelrecht in die Handlung hineingeworfen. „Victoria“: Ein Film über das Lebensgefühl junger Städter, die sich als lebensbejahend, aber auch als orientierungslos herausstellen. „Victoria“ wurde in sieben Kategorien – darunter „Bester Spielfilm“ und „Beste Regie“ – für den diesjährigen Deutschen Filmpreis nominiert, der am 19. Juni verliehen wird.


Interview mit Regisseur Sebastian Schipper und Hauptdarstellerin Laia Costa

Wie entstand die Idee, den ganzen Film in einem „Take“ ohne Schnitt zu drehen?

Sebastian Schipper: Ich hatte einen Tagtraum: Eine Bank zu überfallen. Da ich aber Filmemacher und kein Bankräuber bin, wollte ich einen Film darüber drehen. Dann ertappte ich mich dabei zu denken, wenn ich im Schneideraum sitze, würde ich den Film langweilig finden. Um dem entgegenzuwirken, sollte der Zuschauer in die Haut der Figuren schlüpfen, in den Überfall hineingezwungen werden. Aus dieser Überlegung entstand die Idee, es in einer Einstellung zu drehen.

Wie haben Sie als Schauspielerin diese Arbeitsweise erlebt?

Laia Costa: Es ist eine sehr interessante Erfahrung. Damit es aber funktioniert, muss alles sehr gut vorbereitet werden. Sebastian Schipper wollte ein großes Maß an Improvisation. Um diese Freiheit zu erlangen, musste jeder sehr genau wissen, was er tun sollte. Für den Kameramann Sturla Brandth Groevlen war es eine besondere Herausforderung, immer so nah an uns zu sein. In einer Szene musste er sogar mit der Kamera auf der Schulter neben uns herrennen.

Für Manche ist der Anfang eine Spur zu lang geraten. War das so beabsichtigt?

Sebastian Schipper: Manchmal sind die beabsichtigten Sachen nicht die besten Sachen, sondern die, die einfach passieren. Im Film kann man alles beeinflussen. Häufig wird jedoch verschlimmbessert. Denn Film braucht Fehler. Beim Schneiden werden die Fehler herausgenommen. Ich habe den Eindruck, wir müssen mehr schlechte Filme machen, denn wenn wir schlechte Filme machen, machen wir auch mehr großartige Filme. Das Schlimmste sind die lauwarmen Filme, was vielleicht oft mit dem Optimierungstool „Schnitt“ zu tun hat. Es war mir sehr wichtig, dass „Victoria“ nicht wie ein Film über einen Banküberfall anfängt. Die lange Strecke, bei der der Zuschauer die Figuren kennenlernt, ist für „Victoria“ wesentlich.

Den Film in einem Take zu drehen, war auch eine Art Experiment. Werden Sie es wiederholen?

Sebastian Schipper: Jeder Film muss ein Experiment sein. Das hat eher mit der inneren Haltung zu tun, zu der wir uns gezwungen haben. Damit die Figuren genau sind, müssen wir Motivationen und Psychologien verstehen. Für mich geht es sehr häufig im Film um Motivationen: „Warum sagt er das jetzt?“ „Warum macht er nicht das?“ Das macht viel mehr die Qualität von „Victoria“ aus als die Tatsache, dass er in einem Take gedreht wurde. Nein, ich werden einen „One Take“-Film nie wieder drehen.

Laia Costa: Ich würde schon gerne auf diese Weise wieder arbeiten. Denn ich fühlte mich sehr wohl dabei. Allerdings ist es mir klar, dass sich wenige Regisseure auf so ein Abenteuer einlassen würden.

Wie kamen Sie auf eine junge Spanierin, die kein Deutsch kann und in Berlin alleine ist? Und auf die Jungs, die von der Straße kommen, und vielleicht nicht so helle sind?

Sebastian Schipper: Wir müssen unterscheiden zwischen Intelligenz und Bildung. Bildung haben sie nicht viel mitbekommen, aber emotional intelligent sind die Jungs auf jeden Fall. Als sie auf Victoria treffen, kommen mehrere Welten zusammen: Die Jungs kommen von der Straße. Sie kommt aus einer privilegierten Welt, aus dem Bildungsbürgertum. Aber sie sind alle junge Leute. Weil die Welt zu den jungen Leuten zu sagen scheint: „Wir brauchen Euch nicht“, halten sie zusammen. Für junge Leute aus vielen Ländern ist Berlin ein Sehnsuchtsort. Hier können sie auf Gleichgesinnte treffen. Das ist eine wichtige Unterströmung in „Victoria“.

Laia Costa: Victoria möchte mit ihrer Vergangenheit brechen, weil ihr Traum als Klavierspielerin zerplatzt ist, und ein neues Leben beginnen. Da sie in Berlin niemand kennt, möchte sie Gleichaltrige kennenlernen. So kommt sie auf Sonne und die anderen Jungs. Sie merkt, dass sie wirklich lebendig sind und den Augenblick genießen. Ein solches wildes Leben würde sie auch gerne führen. Außerdem zieht Vitoria an, dass sie wie eine Familie sind.

Kannten Sie schon Berlin? Wie war der Aufenthalt in der Stadt?

Laia Costa: Ich war noch nie in Berlin gewesen. Denn die Rolle bekam ich bei einem Casting in Barcelona. In Berlin fühlte ich mich von allen richtig verhätschelt. Ich durfte das freundliche Gesicht Berlins kennenlernen. Mir ist aber klar, dass Berlin auch noch andere Gesichter hat.

In einer bemerkenswerten Szene wird der Überfall geprobt. Die Schauspieler haben Wochen vorher für den Film geprobt. Nun proben sie im Film erneut. Hat dies eine besondere Bedeutung?

Sebastian Schipper: Häufig macht man den Fehler zu glauben, dass man alles direkt abfilmen kann, so etwa Großaufnahmen von Gesichtern, als würden sich dadurch Gefühle besser übertragen. Aber Gefühle müssen hervorgerufen werden. Ein guter Kameramann filmt nicht direkt ins Gesicht – er macht es eher dunkel. Denn es geht immer um eine Art von Verbergen. Wir wollten nicht mit der Kamera in die Bank rennen. Durch die Probe bekommen wir eine genaue Vorstellung davon, was in der Bank passiert. Das ist viel intensiver, als wenn es direkt gefilmt worden wäre. Es geht darum, dass der Zuschauer selbst die Lücke füllt, so dass der Film in ihm entsteht.

Worum geht es in „Victoria“ eigentlich?

Sebastian Schipper: Auf der Metaebene geht es für mich um Solidarität. Auch die Entstehung des Filmes war ein solidarisches Projekt. Wir halten zusammen vor der Kamera, aber auch alle, die am Film beteiligt sind, haben zusammengehalten. Ich habe das Gefühl, dass unsere Welt uns oft sagt: „Achte auf Dich. Du muss durchkommen.“ Aber das macht uns unglücklich, einsam. Und umgekehrt macht es uns glücklich, wenn wir solidarisch sind. Heute erleben wir eine in vielen Teilen fragmentierte Welt: Jeder lebt für sich allein, jeder sorgt für sich allein. Familien sind oft fragmentiert. Es gibt diese Form der Solidarität immer seltener.
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