NACKT UNTER WÖLFEN | Nackt unter Wölfen
Filmische Qualität:   
Regie: Philipp Kadelbach
Darsteller: Florian Stetter, Peter Schneider, Vojta Vomáčka, Sabin Tambrea, Robert Gallinowski, Rainer Bock, Rafael Stachowiak, Thorsten Merten Land, Jahr: Deutschland 2015
Land, Jahr: Deutschland 2015
Laufzeit: 90 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: G
Auf DVD: 3/2015


José García
Foto: MDR

Im April 1943 wird Hans Pippig (Florian Stetter) ins KZ Buchenwald wegen bolschewistischer Propaganda eingeliefert. Wohl deshalb händigt ihm Kapo André Höfel (Peter Schneider) statt Holzpantinen festes Schuhwerk aus – für das Überleben im Lager kein unwichtiges Detail. Sein Vater wird dagegen von der SS sofort umgebracht. Knapp zwei Jahre später, wenige Wochen vor der Befreiung des KZs wird der Pole Zacharias Jankowski nach Buchenwald deportiert. In seinem Koffer: ein dreijähriger Junge (Vojta Vomáèka). Philipp, der inzwischen in der Effektenkammer arbeitet, entdeckt ihn. Für Höfel und andere kommunistische, einer Widerstandsorganisation angehörende Gefangene stellt das Kind eine Gefahr für ihr Leben und für den Widerstand dar. Sich für die Rettung des Kindes einzusetzen oder die eigene Sicherheit vorzuziehen, das ist eine Frage, die sich jeder Häftling stellen muss.

In seinem Drehbuch verarbeitet Stefan Kolditz Motive aus dem 1958 erschienenen Roman „Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz. Wie bereits in „Unsere Mütter, unsere Väter“ führt nach Kolditz Drehbuch Philipp Kadelbach Regie. Ihr Film zeigt teilweise sehr realistisch die Grausamkeiten der SS in Buchenwald. „Nackt unter Wölfen“ stellt jedoch die von den Häftlingen zu treffende Entscheidung für oder gegen die Rettung des Kindes als eine Frage der Menschlichkeit in den Mittelpunkt.



Interview mit Drehbuchautor Stefan Kolditz

„Nackt unter Wölfen“ basiert auf dem Roman von Bruno Apitz aus dem Jahre 1958, der 2012 neu aufgelegt wurde. Inwieweit haben Sie den Roman adaptiert?
Der Roman beruht zwar auf den Erfahrungen von Bruno Apitz, aber es ist eben ein Roman und nicht – wie viele glauben – ein Dokumentarstück. Apitz konzentriert sich auf einen einzigen 3-jährigen Jungen und blendet dabei die etwa 900 anderen Kinder aus, die am Tag der Befreiung in Buchenwald lebten. Für die DDR-Regierung wurde der Roman so wichtig, weil er den antifaschistischen Charakter dieses Teils Deutschlands mit zementierte. So ließen sie den Jungen in Israel finden und in die DDR bringen. Das Kind wurde instrumentalisiert, um den Roman zu authentifizieren. Unsere Aufgabe bestand darin zu entscheiden, welche Elemente vom Roman übernommen werden können. Durch meine Recherchen sind viele andere Quellen in die Filmentwicklung eingeflossen. Der Film erzählt Vieles, was Apitz weder erzählen wollte noch erzählen konnte. So blendet Apitz das sogenannte kleine Lager aus, das in unserem Film eine wichtige Rolle spielt, weil er sich auf den Kampf der kommunistischen Funktionäre konzentriert. Deswegen sprechen wir auch nicht von „Romanadaption“, sondern von einem Film „nach Motiven des Romans“.

Worum geht es bei „Nackt unter Wölfen“ im Kern?
Im Grunde geht es um die Auseinandersetzung von kommunistischen Häftlingen um den Schutz des Lagers während der letzten Tage. Da hinein kommt ein dreijähriges Kind in einem Koffer. Dadurch geraten die kommunistischen Funktionshäftlinge in einen politisch, aber auch moralisch existentiellen Konflikt, ob sie da Kind opfern oder retten sollen.

Im Unterschied zu Ausschwitz-Birkenau war Buchenwald kein Vernichtungslager. Dort wurden insbesondere Kommunisten und Sozialdemokraten interniert, und nicht so sehr Juden, die erst am Ende von Auschwitz kamen. Wie würden Sie Buchenwald charakterisieren?
Buchenwald war ein Arbeitslager. Die Häftlinge sollten offiziell mittels Arbeit zu besseren Deutschen umerzogen werden. In Wirklichkeit ging es jedoch darum, dass sie sich zu Tode arbeiten. Am Anfang waren auch Juden in Buchenwald. Später wurden sie aber nach Auschwitz deportiert. Nur einige wenige blieben in Buchenwald, weil der kommunistische Kapo Robert Siewert eine kleine Gruppe von jungen Maurern mit Juden bildete. Er überzeugte die SS, dass er sie brauchte, um seine Leistung zu erbringen. Erst 1945, als die KZs im Osten vor der heranrückenden Roten Armee geräumt wurden, kommen noch einmal viele Juden nach Buchenwald. Darunter ist auch das Kind, auf das sich Bruno Apitz beruft, wobei im Roman keine Rolle spielt, dass der Junge Jude ist.

Im Film gibt es viele ambivalente Figuren wie den Lagerältesten Krämer. Einerseits suchen sie ihren eigenen Vorteil, andererseits helfen sie ihren Mithäftlingen. Wie sind solche Charaktere einzuschätzen?
Diese Grauzonen sind sehr interessant. Darum geht es eigentlich im Film. Anfang der 1940er Jahre schaffen es Kommunisten, in die Positionen der Kapos zu kommen, die vorher von „Grünen“, Asozialen, besetzt wurden. So können sie Widerstand vorbereiten und bestimmten Häftlingen Schutz gewähren. Wir haben mit vier Buchenwald-Überlebenden gesprochen, zwei von ihnen waren Sozialdemokraten. Sie sagten einmütig, ohne die kommunistischen Kapos hätten sie nicht überlebt. Andererseits sind die Kapos verpflichtet, mit der SS zusammenzuarbeiten. Das Perfide daran ist es, dass sie die Transporte nach Auschwitz zusammenstellen müssen. Sie hatten die Möglichkeit, Namen von der Liste zu nehmen, dafür mussten sie aber andere darauf setzen. Die in den neunziger Jahren aufkommenden Begriffe von den „roten Kapos von Buchenwald“, die mit der SS gleichgesetzt werden, oder „Opfertausch“, der suggeriert, dass ein dreijährige Junge für den Tod eines anderen verantwortlich sei, sind für mich unerträglich.

Schildert „Nackt unter Wölfen“ nicht auch eine verschworene Gemeinschaft?
Buchenwald wurde in der DDR als das Hohelied auf die deutschen Kommunisten interpretiert. Wenn man es sich aber genauer ansieht, passiert genau das Gegenteil. Die wenigen Kommunisten, die sich für die Rettung dieses Jungen einsetzen, tun es gegen die Parteidoktrin, dass der Junge den Widerstand gefährde. Sie setzen sich gegen die Ideologie durch. Menschlichkeit ist erst möglich, wenn man Ideologie verlässt. Das ist auch ein aktuelles Thema heute weltweit.

Kann der Film auch als Auseinandersetzung zwischen dem Humanen und der Unmenschlichkeit angesehen werden?
Der Mensch ist zu den größten Grausamkeiten, aber auch zur größten Empathie fähig. Der Roman beginnt zwei Wochen vor der Befreiung. Ich habe aber bewusst den Film zwei Jahre früher anfangen lassen. Der Zuschauer sollte den Prozess der Entmenschlichung mitbekommen: das Ankommen, das Registrieren, Haareschneiden ... dieses Ritual sollte den Neuankömmlingen sofort ihre Menschlichkeit nehmen. Doch sie leisten Widerstand. Die Häftlinge wissen, dass der Krieg bald vorbei sein wird. Sollen sie in dieser Situation ihr Leben für ein einziges Kind opfern? Zwei Wochen vor der Befreiung eine solche Entscheidung zu fällen, bedeutet aber auch: „Stehe ich zu dem, wofür ich gekämpft habe?“ Das finde ich eine große menschliche Metapher.

Was für eine Wirkung erhoffen Sie sich von „Nackt unter Wölfen“?
Jede Nation braucht so etwas wie ein kollektives Gedächtnis, das es im geteilten Deutschland nie gegeben hat – es findet im Moment auch nicht statt. Die unterschiedliche Erinnerungskultur zeigt sich schon darin, dass das Ende des Krieges in der alten Bundesrepublik als Tag der Niederlage, in der DDR aber als Tag der Befreiung angesehen wurde. Der Film könnte ein Baustein dafür sein, dass ein Dialog entsteht zwischen den Deutschen aus den alten Bundesländern, die sich mit dieser Geschichte wenig befasst haben, und den Deutschen aus den neuen Bundesländern, deren Sicht korrigiert wird. „Nackt unter Wölfen“ kann ein wichtiger Moment für diesen Dialog werden.
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