BIRDMAN ODER (DIE UNVERHOFFTE MACHT DER AHNUNGSLOSIGKEIT) | Birdman or (The Unexpected Virtue of Ignorance)
Filmische Qualität:   
Regie: Alejandro González Iñárritu
Darsteller: Michael Keaton, Zach Galifianakis, Edward Norton, Andrea Riseborough, Amy Ryan, Emma Stone, Naomi Watts, Lindsay Duncans
Land, Jahr: USA 2014
Laufzeit: 118 Minuten
Genre: Komödien/Liebeskomödien
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: D +, S
im Kino: 2/2015
Auf DVD: 5/2015


José García
Foto: Fox

Bereits während des Vorspanns des neuen Spielfilms von Alejandro González Iñárritu „Birdman“ mit dem langen, schönen Untertitel „oder (die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)“ sind Geräusche und eine Off-Stimme zu hören. Die Tonspur, zu der nicht nur die Filmmusik gehört, spielt in „Birdman“ eine herausragende Rolle. Die Stimme wird dem Zuschauer noch häufiger begegnen. Sie gehört dem „alter ego“ von Riggan Thomson (Michael Keaton), dem Superhelden „Birdman“, den er vor Jahren in mehreren Hollywood-Filmen verkörperte. Zwar betont Riggan bei einem Gespräch mit Journalisten, dass er eine weitere „Birdman“-Fortsetzung ablehnte. Die Zeiten, in denen er ein gefragter Schauspieler war, liegen jedoch offenbar lange zurück.

Riggan Thomson will nicht nur seiner eingerosteten Karriere neuen Schwung verleihen. Mit seiner Adaption von Raymond Carvers „What we talk about when we talk about Love“ in einem Broadway-Theater hofft er, „etwas Bedeutendes“ zu erschaffen. Im Ansatz der Haupthandlung von „Birdman“ steckt denn auch ein typisches Woody-Allen-Motiv: Das Streben, aus der Popkultur herauszukommen, um wirkliche Kunst hervorzubringen. In einem der letzten Filme von Woody Allen „Midnight in Paris“ (2011) drückte sich dies in dem Hollywood-Drehbuchautor aus, der endlich einen Roman, ein „richtiges“ Buch schreiben wollte.

Regisseur González Iñárritu und seine Drehbuch-Mitautoren Nicolás Giacobone, Alexander Dinelaris, Jr. und Armando Bo zeigen den von Selbstzweifeln geplagten Riggan Thomson während der letzten zwei Wochen vor der Premiere des Theaterstücks. Durch einen „Unfall“ wird sein Hauptdarsteller außer Gefecht gesetzt. Auf den Vorschlag von Hauptdarstellerin Lesley (Naomi Watts), die übrigens ebenfalls nach einer Kinokarriere ihrer Premiere am Broadway entgegenfiebert, engagiert Riggan widerwillig den als unberechenbar geltenden Mike Shiner (Edward Norton). Produzent und Riggans bester Freund Jake (Zach Galifianakis) weiß zu berichten, dass Shiner für ein volles Haus und begeisterte Kritiken sorgt. Riggan Thomson muss sich nicht nur mit den Manierismen und dem aufbrausenden Charakter seines Hauptdarstellers Shiner herumschlagen. Darüber hinaus hat er auch mit seiner Freundin und Schauspielerin Laura (Andrea Riseborough) und seiner frisch aus der Entzugsklinik kommenden Tochter Sam (Emma Stone), die als seine Assistentin am Theater ein Praktikum macht, genug Sorgen. Außerdem schaut seine Ex-Frau Sylvia (Amy Ryan) immer wieder im Theater vorbei.

Iñárritus Inszenierung zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass der gesamte Film als eine einzige Plansequenz erscheint. Sichtbare Schnitte sind lediglich zu Beginn und am Ende festzustellen. Sonst deuten sich „unsichtbare“ Schnitte etwa durch einen Einstellungswechsel oder durch den Zeitverlauf an. Die Bewegung der Kamera von Emmanuel Lubezki, der letztes Jahr für „Gravity“ mit dem Kamera-Oscar ausgezeichnet wurde, durch die Theaterkatakomben oder während der Proben in 360-Grad-Drehungen um die Schauspieler herum entwickelt eine hypnotische Wirkung, die den Zuschauer mitten ins Geschehen hineinzieht.

Bereits in der ersten Probe wird ein zentrales Thema von „Birdman“ deutlich: Was ist gespielt, was ist echt? Zugespitzt in der Hauptfigur: Welcher Anteil hat „Birdman“ am Schauspieler/Regisseur Riggan Thomson? Dass Mike Shiner „mehr Realismus“ einfordert, schlägt in dieselbe Kerbe, in die Beziehung zwischen Rolle und Schauspieler, oder auch zwischen Kunst und Leben. Regisseur Iñárritu geht allerdings einen Schritt weiter. „Birdman“ kontrastiert die geschlossene Welt im Theater mit einer Außenwelt, die ausschließlich in den medialen Welten des Internet Facebook, Twitter und YouTube stattfindet – so wenigstens die Meinung von Riggans Tochter Sam, die ihrem Vater vorwirft, nur für eine Elite zu spielen: „Du hast nicht einmal eine Facebook-Seite und machst dich über Twitter lustig. Du existierst nicht.“ Riggan Thomson setzt jedoch vielmehr auf die Wirkung der guten, alten Theaterkritik. In der Figur der „New York Times“-Kritikerin nimmt dieser Subtext in „Birdman“ einen breiten Raum. Obwohl sie sich eigentlich bereits im voraus vorgenommen hatte, das Stück zu verreißen („Sie sind Promi, kein Künstler“), stammt der Untertitel von Iñárritus Spielfilm „Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit“ („The Unexpected Virtue of Ignorance“) ausgerechnet von ihr. Was sich wiederum als moderne Version des „Don Quijote“-Zitats ausnimmt, das Iñárritu anführt: „Das Glück führt unsre Sache besser, als wir es nur wünschen konnten.“

Stilistisch und inhaltlich stellt sich „Birdman“ als ein vielschichtiger Film heraus, der darüber hinaus mit bemerkenswerten Kommentaren – wenn auch der eine oder andere ins Obszöne kippt – gespickt ist. Komplex gestaltet sich etwa auch Riggans Beziehung zu seiner geschiedenen Frau Sylvia („Warum haben wir uns eigentlich getrennt?“). Dass er sie und seine Tochter liebt, beteuert Riggan mehrfach. Dadurch kreist „Birdman“ nicht nur um die Film- und Theaterwelt, sondern stellt auch tiefgründige Fragen über das Leben und die Liebe.

Für die diesjährige Oscar-Verleihung ist „Birdman“ in 9 Kategorien nominiert: Bester Film, Beste Regie, Hauptdarsteller (Michael Keaton), Nebendarstellerin (Emma Stone), Nebendarsteller (Edward Norton), Original-Drehbuch, Kamera, Ton und Tonschnitt. „Birdman“ werden beste Chancen auf den Haupt-Oscar („Bester Film“) eingeräumt.
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