WILD TALES – JEDER DREHT MAL DURCH | Relatos Salvajes
Filmische Qualität:   
Regie: Damián Szifrón
Darsteller: Ricardo Darin, Dario Grandinetti, Oscar Martinez, Leonardo Sbaraglia, Érica Rivas, Rita Cortese, Julieta Zylberberg
Land, Jahr: Argentinien / Spanien 2014
Laufzeit: 122 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: Erwachsene
Einschränkungen: G +, X
im Kino: 1/2015
Auf DVD: 6/2015


José García
Foto: Prokino

„Wutbürger“ wurde 2010 zum deutschen „Wort des Jahres“ gewählt. Der Duden definiert den Begriff als „aus Enttäuschung über bestimmte politische Entscheidungen sehr heftig öffentlich protestierender und demonstrierender Bürger“. In seinem Episodenfilm „Wild Tales – Jeder dreht mal durch!“ präsentiert der argentinische Regisseur Damián Szifrón sechs Episoden, in denen Bürger ihre Wut in ungleich gesteigerter Manier ausleben. Mit Protestieren und Demonstrieren haben ihre heftigen Handlungen weniger zu tun als etwa mit dem Gewaltausbruch des angesichts sozialer Missstände wutentbrannten normalen Bürgers in Joel Schumachers „Falling Down – Ein ganz normaler Tag“ (1993).

Denn die Enttäuschung über die politische oder bürokratische Situation spielt lediglich in einem der sechs Episoden die entscheidende Rolle. In „Bombita“ dreht der Sprengstoffexperte Simon Fisher (Ricardo Darín) durch, nachdem sein Auto unberechtigterweise abgeschleppt und er bei dessen Herausgabe schikaniert wurde. Denn dadurch verpasst Simon den Geburtstag seiner kleinen Tochter und zieht sich den Ärger seiner Frau (Nancy Duplaa) zu. Der Streit gegen ein korruptes System entwickelt sich zum Kampf gegen die Windmühlen eines anonymen Medusenhauptes. Dass dabei nicht nur Simon in die Luft gehen wird, bleibt erwartbar – schließlich ist Simon Sprengstoffspezialist. „Bombita“ ist denn auch der konventionellste der sechs Kurzfilme, aus denen Damián Szifróns Film besteht.

In den anderen fünf Episoden von „Wild Tales – Jeder dreht mal durch!“ entlädt sich die Wut auf privater Ebene, auch wenn in einigen Kapiteln eine gesellschaftskritische Komponente mitschwingt. So etwa im zweiten Kapitel „Die Ratten“, bei dem die einfache Serviererin (Julieta Zylberberg) eines einsamen Schnellimbissrestaurants im einzigen Kunden (César Bordón) den Kredithai wiedererkennt, der einst ihren Vater in den Selbstmord trieb, und sich an ihm zu rächen entschließt. Expliziter tritt der sozialkritische Ansatz in der fünften Episode „Die Rechnung“ auf: Nachdem sein nichtsnutziger Sohn Santiago (Alain Daicz) eine Schwangere überfahren und Fahrerflucht begangen hat, heckt der steinreiche Magnat Mauricio (Óscar Martínez) mit Hilfe seines durchtriebenen Anwalts (Osmar Núñez) einen teuflischen Plan aus: Für eine entsprechende Gegenleistung soll der Gärtner (Germán de Silva) die Schuld auf sich nehmen. Doch der Plan läuft aus dem Ruder.

Aus dem Ruder gelaufen sind ebenfalls die zwei blutigsten Episoden aus Szifróns Film: Im dritten Kapitel „Straße zur Hölle“ wird der Zuschauer Zeuge eines Autoduells auf einsamer Landstraße: Der junge Geschäftsmann Diego (Leonardo Sbaraglia) versucht ziemlich lange, mit seinem neuen Audi einen langsam fahrenden Lastwagen zu überholen. Als er es endlich schafft, macht der Manager dem Lkw-Fahrer (Walter Donado) eine obszöne Geste. Dieser sieht die Stunde seiner Rache gekommen, als der Audi bald darauf liegen bleibt. Rache übt ebenso Romina (Erica Rivas) in der sechsten Episode „Bis dass der Tod uns scheidet“, als sie ausgerechnet während ihrer Hochzeitsfeier entdeckt, dass ihr Mann Ariel (Diego Gentile) mit einer Kollegin eine Affäre hatte... oder vielleicht immer noch hat. Als die originellste der sechs Episoden kann aber die erste „Pasternak“ bezeichnet werden: In einem Flugzeug kommen ein Mann (Dario Grandinetti) und eine Frau (Maria Marull) ins Gespräch. Obwohl sie kaum Gemeinsamkeiten haben, stellen sie fest, dass sie – aber eben nicht nur sie – einen gemeinsamen Bekannten haben. Hier stimmt der Rhythmus wie in sonst keinem der anderen Episoden, genauso wie der Überraschungseffekt.

Obwohl einige der Episoden dann vorhersehbarer werden, ist den meisten Kurzgeschichten ein dramaturgisches Grundmuster gemeinsam: Eine Situation, die sich immer mehr hochschaukelt, bis jemandem der Kragen platzt. Drehbuchautor und Regisseur Damián Szifrón setzt nicht nur komische Dialoge, sondern auch eine schwarzhumorige Situationskomik ein, die etwa an die Filme von Tarantino oder von den Coen-Brüdern erinnert. Wie in diesen besitzt Gewalt in „Wild Tales – Jeder dreht mal durch!“ ebenfalls eine komische Note. Dennoch ist Damián Szifróns Episodenfilm gewiss nicht für Zartbesaitete, denn obwohl nur einige der Episoden besonders brutal ausfallen, mit drastischen Schockeffekten sind sie so gut wie alle gespickt.

Regisseur Damián Szifrón entzieht sich einer moralischen Aussage. Er zeigt lediglich Situationen, in denen Menschen von ihrer Frustration oder auch Ohnmacht zu besonders gewalttätigen Kurzschlussreaktionen getrieben werden. Zwar sind sie meistens ziemlich überspitzt. Denn in der Übertreibung liegt größtenteils der Humor von „Wild Tales – Jeder dreht mal durch!“. Sie verdeutlichen jedoch auch ein Unbehagen gegenüber sozialen Widersprüchen, die insbesondere für die argentinische Gesellschaft zutreffen mag, die aber auch einen gewissen universellen Charakter haben.

„Wild Tales – Jeder dreht mal durch!“ wurde in Argentinien zum erfolgreichsten Film des Jahres 2014 und zum drittstärksten argentinischen Film überhaupt. Argentinien hat ihn darüber hinaus für den Oscar 2015 als „Bester nichtenglischsprachiger Film“ offiziell eingereicht.
Diese Seite ausdrucken | Seite an einen Freund mailen | Newsletter abonnieren