GEMMA BOVERY | Gemma Bovery
Filmische Qualität:   
Regie: Anne Fontaine
Darsteller: Fabrice Luchini, Gemma Arterton, Jason Flemyng, Elsa Zylberstein, Mel Raido, Niels Schneider
Land, Jahr: Frankreich 2014
Laufzeit: 110 Minuten
Genre: Komödien/Liebeskomödien
Publikum: Erwachsene
Einschränkungen: X +
im Kino: 9/2014
Auf DVD: 2/2015


José García
Foto: Prokino

Der ehemalige Verlagsleiter Martin Joubert (Fabrice Luchini) ist in die Normandie zurückgekehrt, um die Familien-Bäckerei zu übernehmen. Hier findet Joubert – wie er selbst in die Kamera spricht – „Ausgeglichenheit und Ruhe“, allerdings mit der Zeit wohl auch Eintönigkeit und Langeweile. Willkommene Abwechslung kommt ins Leben des nach der gescheiterten Verlagskarriere immer noch literaturbegeisterten Bäckers, als an einem sonnigen Frühlingstag ein englisches Ehepaar in das Nachbaranwesen einzieht. Gemma Bovery (Gemma Arterton) und ihr Mann Charlie (Jason Flemyng) planen fern von London einen Neuanfang in der ländlichen Abgeschiedenheit der Normandie. Während Charlie damit vollends damit beschäftigt ist, als Restaurator Fuß zu fassen, fühlt sich Gemma ohne eigene Aufträge als Inneneinrichterin unausgefüllt. Sie unternimmt ausgedehnte Spaziergänge mit ihrem Hund, um die Schönheit der Natur zu genießen.

Auf diesen Spaziergängen begegnet sie immer wieder Martin – nicht nur rein zufällig. Denn Martin, dessen Lieblingsbuch Gustave Flauberts „Madame Bovary“ ist, stellt sich Gemma als eine Art Reinkarnation der Flaubertschen Emma Bovary vor. Was zu Beginn das Feststellen einer verblüffenden Namensähnlichkeit war – im ebenfalls in der Normandie spielenden Roman heißt Emmas Ehemann Charles, in der Wirklichkeit Gemmas Mann Charlie –, wird für Martin zu einer schwärmerischen Obsession. Martins anfängliche Verliebtheit in die heitere und attraktive Endzwanzigerin, die der Flaubert-Kenner selbst sehr schnell als völlig lächerlich abtut, lässt einer Zwangsvorstellung Platz: Nachdem er unwillkürlich Zeuge der Begegnung zwischen Gemma und dem jugendlichen Adligen Hervé de Bressigny (Niels Schneider) geworden ist, tritt Martin aus der Rolle des Beobachters heraus. Er meint, in das Geschehen eingreifen zu müssen, als sei er ein neuer Flaubert. In einer Szene sagt Joubert, dass das Leben die Kunst imitiert – frei nach dem berühmten Diktum von Oscar Wilde: „Das Leben ahmt die Kunst mehr nach, als die Kunst das Leben“. Deshalb meint Martin Joubert, obwohl er sich als eine Art Regisseur ansieht, die Situation nicht beeinflussen zu können. Der Literaturbegeisterte ist davon überzeugt, dass die sich bald entfachende leidenschaftliche Affäre zwischen Gemma und Hervé die junge Frau ähnlich Flauberts „Madame Bovary“ in ein Unglück stürzen wird, und dass er sie vor dem furchtbaren, von Flaubert erdachten Schicksal beschützen muss. Beging bekanntlich doch Madame Bovary bei Flaubert Selbstmord, was Martin unbedingt vermeiden will. Weder die von Martin empfohlene Lektüre von „Madame Bovary“ noch die unbeholfenen Versuche des literaturbegeisterten Bäckers können jedoch Gemma in ihrem Begehren stoppen. Als ihr Exfreund Patrick (Mel Raido) unvermittelt im Dorf auftaucht, scheint die von Martin befürchtete Katastrophe unausweichlich.

Für ihr Drehbuch adaptieren Regisseurin Anne Fontaine und ihr Mitautor Pascal Bonitzer die gleichnamige „Graphic Novel“ der britischen Cartoonistin Rosemary Elizabeth „Posy“ Simmonds. Erzählt die Vorlage aus unterschiedlichen Perspektiven, so erlebt der Filmzuschauer die Handlung vorwiegend aus dem Blickwinkel von Martin Joubert. Lediglich eine Schlüsselszene wird aus drei unterschiedlichen Perspektiven wiedergegeben. Zur Adaption führt Anne Fontaine aus: „Um den Ton, den Posy Simmonds anschlägt, adäquat zu übertragen, musste das Komödiantische extrem pointiert ausfallen, denn der depressive Bäcker hat etwas von einem französischen Woody Allen – es sind seine Eigenarten und seine blühende Fantasie, die das Komische hervorbringen.“

Kameramann Christophe Beaucarne bietet sehr sonnige, manchmal allzu lichte Bilder der Normandie. „Es war uns sehr wichtig, einen sonnigen Film zu drehen, denn die Geschichte hat ja durchaus ihre düsteren Momente“, sagt dazu Regisseurin Anne Fontaine. Die Bilder strahlen zunächst eine fast märchenhafte Anmutung aus, die allerdings im Laufe der Handlung nachlässt. Fabrice Luchini scheinen die „literarischen“ Rollen zuzusagen. Nachdem er in François Ozons „In ihrem Haus“ einen Literaturlehrer verkörpert hatte, bei dem die Grenzen zwischen literarischer Fiktion und der Wirklichkeit immer mehr verschwimmen, stellte er kürzlich in Philippe Le Guays „Molière auf dem Fahrrad“ einen alternden Schauspieler dar, der mit einem befreundeten Theaterregisseur über die richtige Interpretation von Molières „Der Menschenfeind“ stritt. Ähnlich „Gemma Bovary“ handeln die beiden Filme von den Beziehungen zwischen Literatur und Realität. Fabrice Luchini verkörpert erneut einen Literaturbegeisterten, der von der Fiktion so eingenommen ist, dass er sich in die Realität einzugreifen gezwungen sieht. Gemma Arterton spielt mit einer an Naivität grenzenden Unschuld die junge Engländerin, die ähnlich der literarischen Figur der Madame Bovary von ihrer Suche nach Liebe getrieben zu sein scheint.

Dennoch nimmt sich „Gemma Bovary“ eigentlich nicht als eine Adaption von Flauberts Roman aus. Fontaines Film handelt vielmehr von den Gefahren einer überbordenden Fantasie, die irgendwann einmal zwischen Fiktion und Realität nicht mehr unterscheiden kann. „Gemma Bovary“ lotet die Grenzen zwischen der Literatur und der Wirklichkeit, aber auch zwischen der Schwärmerei und der Zwanghaftigkeit aus.
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