KARTE MEINER TRÄUME, DIE | The Young and Prodigious T.S. Spivet
Filmische Qualität:   
Regie: Jean-Pierre Jeunet
Darsteller: Kyle Catlett, Helena Bonham Carter, Callum Keith Rennie, Niamh Wilson, Judy Davis
Land, Jahr: Frankreich / Kanada 2013
Laufzeit: 105 Minuten
Genre: Familienfilme
Publikum:
Einschränkungen: --
im Kino: 7/2014
Auf DVD: 11/2014


José García
Foto: dcm

Seit seinem ersten, zusammen mit dem Zeichner und Designer Marc Caro inszenierten Langspielfilm „Delicatessen“ (1991) erschafft sich der französische Regisseur Jean-Pierre Jeunet seine eigene Kinorealität. Insbesondere in seinem bekanntesten Spielfilm „Die fabelhafte Welt der Amélie“ („Le fabuleux destin d’Amélie Poulain“, 2001), aber etwa auch in „Micmacs – Uns gehört Paris“ („Micmacs a tire-larigot“, 2009) entführt der nun allein Regie führende Jeunet seine Zuschauer in eine Welt, die sich als eine eigenwillige Mischung aus Wirklichkeit und Fantasie ausnimmt. In seinem nun im deutschen Kino anlaufenden Film „Die Karte meiner Träume“ („The Young and Prodigious T.S. Spivet“) adaptiert er für die große Leinwand den gleichnamigen Roman des US-amerikanischen Autors Reif Larsen. Handlungsspielort ist im Gegensatz zu „Amélie“ und „Micmacs“ nicht die französische Hauptstadt, sondern die US-amerikanische Provinz.

Im Nirgendwo von Montana lebt der zehnjährige T.S. Spivet (Kyle Catlett) zusammen mit seinen Eltern (Helena Bonham Carter, Callum Keith Rennie), seiner älteren Schwester Gracie (Niamh Wilson) und seinem Zwillingsbruder Layton (Jakob Davies) auf einer Ranch. Einen größeren Gegensatz als zwischen T.S.’ Eltern kann kaum erdacht werden. Sie seien wie Tag und Nacht, bemerkt T.S. – und die Leinwand teilt sich nach dem Splitscreen-Verfahren, um dies zu demonstrieren. Manchmal fragt sich der Junge, wie der wortkarge Rancher und Western-Fan und die verschrobene Insektenforscherin jemals ein Paar werden konnten. Dieser Gegensatz spiegelt sich in den Zwillingen wider: Layton ist nicht nur größer als T.S. Zur Freude des Vaters entwickelt er sich auch zum richtigen kleinen Cowboy. Demgegenüber beschäftigt sich der schmächtige, hochbegabte T.S. mit Diagrammen und neuen Erfindungen. Seine Lehrer treibt er manchmal zur Weißglut, weil er tatsächlich alles besser weiß. Aber Layton starb bei einem Unfall. Der Film erzählt davon lakonisch und in Rückblenden. T.S. fühlt sich an Laytons Tod verantwortlich, weil er dabei war und ihn nicht verhindern konnte.
Die Tüfteleien von T.S. führten dazu, dass er erstmals ein funktionierendes Perpetuum mobile entwickeln konnte. Die Erfindung spricht sich bis nach Washington herum: Die Smithsonian Institution verleiht ihm den renommierten Baird-Award, wobei die Kuratorin des Smithsonian Museums, Miss Jibsen (Judy Davis), irrtümlicherweise T.S.’ Vater für den Erfinder hält. Der sensible T.S. macht sich mit einem riesigen Koffer auf die Reise an die Ostküste, um den Preis entgegenzunehmen und den Irrtum aufzuklären. T.S. gelingt es, einen Güterzug zum Halten zu bringen und den schweren Koffer in den Zug zu hieven. In Nebraska macht er die Bekanntschaft eines Landstreichers, der sich als „Zweite Wolke“ (Dominique Pinon, der Hauptdarsteller von „Delikatessen“, in einer Gastrolle) vorstellt. In Chicago, wo der Zug endet, wird T.S. vom gutmütigen Lkw-Fahrer Ricky (Julian Richings) mitgenommen, der ihn nach Washington D.C. bringt. Dort trifft er endlich auf Miss Jibsen, die nicht schlecht staunt, als sie den kleinen Preisträger kennenlernt.

Obwohl durch die verschiedenen Etappen der Reise des hochbegabten Jungen das von Regisseur Jeunet und seinem Mitautor Guillaume Laurant verfasste Drehbuch von „Die Karte meiner Träume“ ziemlich episodisch wirkt, überzeugt insbesondere die Filmsprache von Jean-Pierre Jeunet. Ähnlich „Amélie“ und „Micmacs“ setzt er für „Die Karte meiner Träume“ nicht nur sehr satte Farben, sondern auch die Verknüpfung von Filmbildern und Zeichnungen ein, um das Innere des kleinen Jungen zu verbildlichen. Die farbenfrohen Bilder und die Blicke ins Innere der Figuren, etwa in die Hirnrinde von T.S.’ Schwester Gracie, lassen bei allem Unterschied zu den in Paris spielenden früheren Filmen Jeunets die zum Markenzeichen des französischen Regisseur gewordene Mischung aus Realität und Fantasiewelt erkennen.

Dazu gehören ebenso die skurrilen Ideen, die sich in vielen Details manifestieren, sowie die liebenswert verschrobenen Charaktere, die von den Schauspielern kongenial verkörpert werden. Der bei den Dreharbeiten zehnjährige Kyle Catlett, der offenbar genauso hochbegabt ist wie seine Figur, drückt seine Neugier auf die Welt insbesondere mit seinen wachen Blicken aus. Helena Bonham Carter, die als Lieblingsschauspielerin Tim Burtons seit mehr als einem Jahrzehnt inzwischen allerlei eigenwillig-skurrile Rollen mit Leben gefüllt hat, gestaltet die überspitzt gezeichnete Forscherin und Mutter als ein Echo dieser Figuren – was den Gegensatz zum bodenständigen Vater unterstreicht.

Zwar bietet „Die Karte meiner Träume“ gewisse Parodien, etwa einer Live-Fernsehshow oder auch des medienwirksamen Wissenschaftsbetriebs durch die als nervöse Managerin agierende Judy Davis. Zwar zeichnet Jean-Pierre Jeunets Film die Stadt als Schlangengrube im Gegensatz zum einfach-unschuldigen Leben auf dem Lande. „Die Karte meiner Träume“ handelt jedoch darüber hinaus von allgemein gültigen Lebensthemen: Trauer, Abschiedsschmerz, Familiensinn. Regisseur Jeunet behandelt sie zwar mit einer gehörigen Portion Melancholie. Die groteske Überzeichnung der Erwachsenenwelt aus der Sicht eines hochbegabten Kindes trägt jedoch in besonderem Maße dazu bei, dass die Stimmung in keinem Augenblick in Sentimentalitäten abgleitet.
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