HARMS | Harms
Filmische Qualität:   
Regie: Nikolai Müllerschön
Darsteller: Heiner Lauterbach, Friedrich von Thun, Axel Prahl, Martin Brambach, Blerim Destani, André Hennicke, Benedikt Blaskovic, Valentina Sauca, Helmut Lohner
Land, Jahr: Deutschland 2014
Laufzeit: 98 Minuten
Genre: Thriller
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: G +, X
im Kino: 6/2014
Auf DVD: 11/2014


José García
Foto: kinostar

Seinen letzten Tag im Gefängnis gestaltet Harms (Heiner Lauterbach) als einen veritablen Rachefeldzug. Dabei fragt sich der Zuschauer freilich, ob die darin gezeigte explizite Gewalt in dieser Brutalität wirklich nötig ist, zumal diese erste Sequenz mit dem Rest des Filmes von Drehbuchautor und Regisseur Nikolai Müllerschön inhaltsmäßig nichts gemein hat. Sie dient lediglich dazu, eine Figur zu etablieren: Harms schlägt erbarmungslos zu, wenn es darum geht, Wort zu halten. Dazu wird später noch die Information geliefert, eigentlich habe er gerade deshalb 16 Jahre im Gefängnis gesessen, weil er sein Wort nicht brechen wollte.

Nach 16 Jahren hinter Gittern fällt es Harms nicht leicht, sich „draußen“ zurechtzufinden. Er bekommt ein Zimmer in einem schäbigen Wohnheim, trifft sich an dessen Imbissbude mit seinem alten Bekannten Onkel Albrecht (Helmut Lohner), dem ein junger Türke (Blerim Destani) hilft. Harms beginnt ein Verhältnis mit der Prostituierten Jasmin (Valentina Sauca). Hin und wieder geht er auch in das heruntergekommene Lokal von Timm (Martin Brambach), der seinen Koch schikaniert und von seiner Freundin ziemlich abhängig ist. Harms bester Freund ist und bleibt aber Menges (Axel Prahl), der zwar eine Familie zu versorgen hat, aber von kleinkriminellen Gelegenheitsjobs zu leben scheint. Der wortkarge Harms, der auf die Gesprächsversuche Jasmins mit einem schroffen „Lass die Fragerei“ reagiert, weiß nicht recht, was er mit der neu erworbenen Freiheit anzufangen hat.

Diese Entscheidung wird ihm abgenommen, als ihn Knauer (Friedrich von Thun), ein ehemaliger Bundesbank-Vorstand, auf den von ihm ausgeheckten Plan anspricht: Im Bundesbanktresor lagern zu vernichtende Geldscheine in Höhe von 70 bis 100 Millionen Euro. Knauer hat einen Komplizen im Sicherheitspersonal, den Wachmann Wettke (André Hennicke). Der Plan sieht denkbar einfach aus: Mit Wettkes Hilfe fährt ein Transporter in die Tiefgarage der Bundesbank. Harms und seine Komplizen nehmen dem Wachpersonal die Waffen weg, befördern das Geld in den Transporter und sind draußen, ehe die alarmierte Polizei eintrifft. Auch an kleinere Details denken Harms und seine Komplizen Menges und Timm: Die registrierten Scheinnummern müssen vorher gelöscht werden, wozu der Computerhacker und Harms’ ehemaliger Zellenmitinsasse Luik (Benedikt Blaskovic) angeheuert wird. Um mehr Zeit zu gewinnen, soll der Weg der Polizei abgeschnitten werden. Da Harms weiß, dass man so viele Scheine in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht schnell genug bewegen kann, will er sich auf ein Drittel des vorhandenen Geldes, auf die Paletten mit den größeren Scheinen, beschränken. Das dürfte für alle genug sein – meint er wenigstens.

„Harms“ gehört einem Filmgenre an, das in der deutschen Kinolandschaft eine Rarität darstellt. Produziert wurde der Film – ohne öffentliche Förderung – in Zusammenarbeit zwischen Drehbuchautor und Regisseur Nikolai Müllerschön und Hauptdarsteller Heiner Lauterbach. Heiner Lauterbach und ihm, so Nikolai Müllerschön, sei „aufgefallen, dass es dieses Genre in Deutschland gar nicht gibt. Zwar gibt es den Polizeifilm – das Fernsehen ist voll davon. Es gibt 18 Millionen Fernsehserien, -reihen und -filme über Polizisten, aber die Geschichten der anderen Seite, der Gangster, werden bei uns nie erzählt.“

Gehört zur Inszenierung eines Gangsterfilmes der teilweise sprunghafte Schnitt mit kurzen Szenen dazu, so fallen einige Unstimmigkeiten in der Inszenierung auf: Geht der Zuschauer davon aus, dass sich die Bundesbank in Frankfurt am Main befindet, so ist er irritiert, wenn sich eine der Schlussszenen gegenüber dem Münchener Landgericht in der Prielmayerstraße abspielt. Und diese Verblüffung wird noch angesichts der unterschiedlichen Autokennzeichen gesteigert, die auf der Leinwand zu sehen sind: So viele verschiedene Kfz-Nummernschilder von Euskirchen und Olpe über Hamburg, Düsseldorf und München bis hin zu Teltow-Fläming und Berlin waren in keinem deutschen, vielleicht sogar überhaupt in keinem Film zu sehen. Schwerer wiegt jedoch die „schmutzige“ äußere Erscheinung der Bilder von Kameramann Klaus Merkel, die eine vermeintliche Authentizität vortäuschen. Und das bei einem Film, der eigentlich die strengen Regeln eines bestimmten Genres befolgt.

Regisseur Nikolai Müllerschön macht diese Schwächen durch den intelligenten Einsatz der von Xavier Naidoo stammenden Musik und insbesondere durch eine gelungene Figurenzeichnung wieder wett. Der Regisseur zeigt eine unverhohlene Sympathie für gebrochene Existenzen wie Menges oder Timm. Vor allem aber lässt er Heiner Lauterbach genügend Raum, um eine komplexe Persönlichkeit zu porträtieren. In seiner Härte, aber auch in seiner Wortkargheit und vor allem im Festhalten an einem Ehrenkodex erinnert Harms an klassische Gangstergestalten, etwa an den von Jean Gabin in „Der Clan der Sizilianer“ (José Giovanni, 1969) verkörperten Mafiaboss Vittorio Manalese.

In ihrer Milieustudie verdeutlichen Nikolai Müllerschön und Heiner Lauterbach darüber hinaus aber auch die Einsamkeit und Melancholie einer gescheiterten Existenz, vor allem aber auch den schädlichen Einfluss der Gier. Deshalb, wegen einer trotz Schwächen und der Vorhersehbarkeit der Handlung so doch in ihrer Schnörkellosigkeit gelungenen Inszenierung, vor allem aber dank der hervorragenden Figurenzeichnung kann „Harms“ als ein ordentlicher Versuch in einem in Deutschland so gut wie inexistenten Filmgenre bezeichnet werden.
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