SOHN, DER | Le Fils
Filmische Qualität:   
Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne
Darsteller: Olivier Gourmet, Morgan Marinne, Isabella Soupart, Rémy Renaud, Nassim Hassaini
Land, Jahr: Belgien/Frankreich 2002
Laufzeit: 103 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: Erwachsene
Einschränkungen: -


JOSÉ GARCÍA
Foto: Kairos

Die Kamera folgt den nervösen Bewegungen eines Mannes in Arbeitskluft, sitzt ihm buchstäblich im Nacken. Selbst wenn wir nach einer Weile sein Gesicht zu sehen bekommen, rückt ihm die Kamera so nahe, dass im Bildausschnitt nie das ganze Gesicht sichtbar wird. Und sein Innerstes erst recht nicht – es scheint hinter den dicken Brillengläsern verborgen zu bleiben. In den ersten Einstellungen erfährt der Zuschauer, wie dieser Mann schwer erziehbaren Jungen das Tischlerhandwerk beibringt. Eines vermitteln die ständigen Kamerabewegungen und die viel zu nahen Aufnahmen auf jeden Fall: selbst in der Werkstatt bleibt Lehrmeister Olivier stets in Bewegung, er scheint von innerer Unruhe zur Atemlosigkeit getrieben zu werden.

Auf die sehr eigenwillige Mischung von langsamem Tempo und ruheloser Kamera im Kino der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne muss sich der Zuschauer erst einlassen. Ihr früherer Spielfilm „Rosetta“, mit dem sie im Jahre 1999 die Goldene Palme in Cannes gewannen, hetzte einem jungen, am Rande der Gesellschaft lebenden Mädchen unablässig, atemlos hinterher. In ihrem neuen Film „Der Sohn“ („Le Fils“) sind sie noch einen Schritt weiter gegangen, erklärt Jean-Pierre Dardenne: „In ‘Rosetta’ ist die Kamera viel mehr dem Boden verhaftet, hier wirkt sie leichtfüßiger, als könnte sie fliegen.“ Wegen der zittrigen Handkamera und des Verzichts auf Filmmusik werden die Dardenne-Brüder immer wieder mit der dänischen Bewegung des so genannten „Dogma 95-Manifestes“ in Verbindung gebracht, weil zu den „Dogma“-Prinzipien das Drehen mit Handkamera, ohne Requisiten, ohne Soundtrack und ohne künstliches Licht sowie die Improvisation der Schauspieler gehören. Die belgischen Regisseure bestreiten indes eine Verwandtschaft: „Ich sehe wenig Gemeinsamkeiten, denn die ‘Dogma’-Leute arbeiten viel mit kleinen Digitalkameras und ausschließlich mit natürlichem Licht, während in unseren Filmen die Ausleuchtung und das Spiel mit dem Licht äußerst wichtige Elemente sind.“ Ihren Stil in eine Schublade zu stecken, bietet wenig Aussicht auf Erfolg – bei kaum einem anderen Filmemacher trifft besser der strapazierte Begriff Autorenkino zu.

Wie ein Puzzle muss sich der Zuschauer die Bausteine der Handlung von „Der Sohn“ zurechtlegen: Olivier lehnt unter einem Vorwand die Bewerbung eines auf Bewährung entlassenen Jugendlichen brüsk ab, nimmt ihn jedoch scheinbar genauso unmotiviert bald darauf als Lehrling an. Den Schlüssel für dieses Verhalten liefert ein Gespräch Oliviers mit seiner geschiedenen Frau Magali: fünf Jahre zuvor hatte derselbe Junge, damals erst elf Jahre alt, Oliviers und Magalis Sohn erwürgt. „Er hat unseren Sohn getötet und du willst ihn ausbilden? Niemand würde das tun“, sagt Magali zu ihm. „Ich weiß“, lautet die lakonische Antwort. Darauf sie: „Warum tust du es dann?“ Olivier: „Ich weiß es nicht“.

In seinem Spielfilmdebüt „Das zweite Mal“ (1995) erzählt der italienische Regisseur Mimmo Calopresti mit völlig unspektakulären Mitteln von einem Wirtschaftsprofessor aus einer norditalienischen Stadt, der völlig aus der Bahn gerät, als er unvermittelt derselben ehemaligen Terroristin wieder begegnet, die ihm acht Jahre zuvor eine Kugel in den Kopf geschossen hatte. „Das zweite Mal“ wurde zu einer psychologischen Studie des Opfers, das die Motive einer Täterin zu ergründen versucht, die ihn bei der „zweiten Begegnung“ nicht einmal wieder erkennt.

Auch der Jugendliche, dessen Name Francis wir ebenfalls beim Gespräch zwischen Olivier und Magali erfahren haben, erkennt in seinem neuen Lehrmeister nicht den Vater seines Opfers. Im Unterschied zu Caloprestis „Das zweite Mal“ baut „Der Sohn“ eine intensive Beziehung zwischen Olivier und dem noch ahnungslosen Francis auf, der den Meister sogar bittet, sein Bewährungshelfer zu werden.

Im großartig minimalistischen Spiel Olivier Gourmets, das ihm für die Rolle des Olivier den „Preis für den besten männlichen Darsteller“ bei dem Filmfestival Cannes 2002 einbrachte, bleiben seine Motive, seine Gedanken bis zuletzt verborgen. Doch indem sich Olivier einer nahe liegenden Rache verweigert, geht „Der Sohn“ einen Schritt weiter als Caloprestis Film. Dadurch, dass der Verlust des eigenen Sohnes mittels Vergebung überwunden wird, liefern die Dardenne-Brüder mit ihrem atmosphärisch dichten Spielfilm eine wunderbare Lektion in Sachen Menschlichkeit.
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