WILBUR | Wilbur Wants to Kill Himself
Filmische Qualität:   
Regie: Lone Scherfig
Darsteller: Jamie Sives, Adrian Rawlins, Shirley Henderson, Lisa McKinlay, Mads Mikkelsen, Julia Davis
Land, Jahr: Dänemark/Großbritannien/Deutschland 2002
Laufzeit: 106 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: Erwachsene
Einschränkungen: S


JOSÉ GARCÍA
Foto: Ottfilm

Mit ihrem dritten Spielfilm „Italienisch für Anfänger“ gelang der dänischen Regisseurin Lone Scherfig im Jahre 2001 ein Welterfolg. Die bittersüße Komödie um die zarten Liebesgeschichten, die aus drei Frauen und drei Männern eines Kopenhagener Vororts drei Liebespaare machten, wurde zum Publikumsliebling der Berlinale 2001. In Berlin gewann „Italienisch für Anfänger“ zudem den Silbernen Bären für die Beste Regie sowie die Preise der Internationalen Filmkritiker und der Ökumenischen Jury.

„Italienisch für Anfänger“ war der erste Film, den eine Frau nach den Regeln des so genannten „Dogma 95-Manifestes“ drehte. Die von vier dänischen Regisseuren um Lars von Trier initiierte Bewegung wollte zu einer „reineren“ Form des Kinos, zu dessen Anfängen zurückführen. Zu den obersten „Dogma“-Prinzipien gehören das Drehen mit Handkamera, ohne Requisiten, ohne Soundtrack und ohne künstliches Licht sowie die Improvisation der Schauspieler. Anders als bei ihren männlichen Regie-Kollegen aus der „Dogma“-Bewegung spielte jedoch in „Italienisch für Anfänger“ ein verschmitzter Humor eine zentrale Rolle. Nach dieser gelungenen Mischung aus Tragikomödie und den ernsten Themen Liebe, Versöhnung und Glauben hat sich Lone Scherfig von „Dogma“ verabschiedet und ihren aktuellen Spielfilm „Wilbur Wants To Kill Himself“ in konventioneller Filmsprache realisiert. „Wilbur“ wurde in Schottland und in englischer Sprache gedreht.

„Wilbur will sich umbringen“ beginnt, wie ein solcher Titel vermuten lässt: der Zuschauer erlebt bereits während des Vorspanns einen etwa dreißigjährigen Mann beim Selbstmordversuch. Wilbur lebt in Glasgow, hat zusammen mit seinem älteren Bruder Harbour von seinem kürzlich verstorbenen Vater die Secondhand-Buchhandlung „North Books“ geerbt und arbeitet in einem Kindergarten. Dieses Leben scheint ihn allerdings nicht zu interessieren. Warum er sich umzubringen versucht, erfährt der Zuschauer erst im Laufe der Zeit. Wilburs Selbstmordversuche wurden bislang allerdings immer wieder von Harbour vereitelt, der seine Lebensaufgabe gerade darin sieht, seinen jüngeren Bruder vom Wert des Lebens zu überzeugen.

Frischen Wind in das eingefahrene Leben der zwei Brüder bringt die schüchterne Alice mit ihrer achtjährigen Tochter Mary, die in „North Books“ die Bücher verkauft, die sie bei ihrer Tätigkeit als Putzfrau im Krankenhaus einsammelt. Harbour und Alice heiraten bald darauf. Nun gehört auch zu Alices Lebensaufgaben, sich um Wilbur zu kümmern, der wiederum in seiner Schwägerin die beste Therapie gegen seine Todessehnsucht findet. Nachdem Harbour erfährt, dass er bald an einem unheilbaren Krebsleiden sterben wird, kehrt sich die gesamte Situation um. Die beiden Brüder tauschen die Plätze: der den Tod suchte, findet nun die Liebe; der, der die Liebe gefunden zu haben meinte, stirbt.

„Wilbur Wants To Kill Himself“ lebt vom subtilen Humor selbst in den Augenblicken, in denen es buchstäblich um Leben und Tod geht. Der feine Humor, den Scherfig in „Italienisch für Anfänger“ aus der Situationskomik ihrer großartigen Darsteller entwickelte, bricht sich in „Wilbur“ immer wieder, etwa bei den Therapiestunden, freie Bahn. Wie in „Italienisch für Anfänger“ spürt der Zuschauer zudem in jedem Augenblick die tiefe Zuneigung der Regisseurin für ihre Figuren, wobei Scherfig erneut ein großes Gespür für die Nebenfiguren beweist. Unter diesen ragt der exzentrische Psychiater Horst heraus, der durch seine wortkarge Art und einen knochentrockenen Humor besticht. Auch er wird nach und nach dem Zuschauer Einblick in seine eigene Psyche gewähren.

Die eigenwillige Mischung aus Humor und Tragik dient der Regisseurin dazu, Liebe, Versöhnung, Glück, Leben und Tod zu vertiefen. Nimmt man die „Dreiecksgeschichte“ samt beschleunigtem tödlichem Ausgang von Harbours Krankheit wörtlich, wäre ohne Zweifel moralische Entrüstung angebracht. „Wilbur Wants To Kill Himself“ erlaubt jedoch eine allegorische Lesart, die aus diesem kleinen Spielfilm ein großes Stück Kino macht: in seinem Bemühen, seinem jüngeren Bruder den Wert des Lebens beizubringen, geht Harbour bis zur Selbstaufgabe. Er, der sich immer um die andern, nie um sich selbst gekümmert hatte, schenkt seinem Bruder sein Glück, seine Liebe, eben sein Leben, damit dieser leben kann. Ein solches Opfer haben wir im Kino lange nicht mehr gesehen.
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