IN THIS WORLD | In This World
Filmische Qualität:   
Regie: Michael Winterbottom
Darsteller: Jamal Udin Torabi, Enayatullah, Imran Paracha, Hiddayatullah, Hossein Baghaeian, Yaaghoob Nosraj Poor, Ghodrat Poor
Land, Jahr: Großbritannien 2002
Laufzeit: 89 Minuten
Genre: Dokumentation
Publikum: Erwachsene
Einschränkungen: -


JOSÉ GARCÍA
Foto: Arsenal

Goldener Bär, Friedenspreis, Preis der Ökumenischen Jury Berlinale 2003

Zu den aktuellen Trends des Kinos außerhalb Hollywoods gehören fiktive Dokumentationen. Besonders verbreitet sind sie in iranischen Filmen wie Bahman Gohbadis Spielfilmdebüt „Die Zeit der trunkenen Pferde“. In diesem Genre spielen zwar Laiendarsteller eigentlich sich selbst; aber sie schauspielern doch – der Film folgt trotz aller Improvisation einem konstruierten Drehbuch. Auch „In This World“, der Gewinner des Goldenen Bären sowie des Friedenspreises und des Preises der Ökumenischen Jury bei der diesjährigen Berlinale, stellt eine solche nachgestellte Dokumentation dar.

Mit „In This World“ verfolgt der britische Regisseur Michael Winterbottom eindeutig eine gesellschaftspolitische Zielsetzung: auf das Schicksal der hunderttausenden Flüchtlinge, die jedes Jahr in die Hand von Schleuserbanden geraten, aufmerksam zu machen. Ein menschliches Drama, dessen Dimensionen zu Beginn von „In This World“ eine nüchterne Off-Stimme dem Zuschauer so nahe bringt: „Weltweit gibt es 14 Millionen Flüchtlinge, 5 Millionen davon in Asien, 1 Million allein in Peschawar.“

Dort, in der pakistanischen Stadt Peschawar an der afghanischen Grenze nimmt dieses Road-Movie seinen Anfang. In einem Flüchtlingslager nahe der Stadt lebt Jamal, ein afghanischer Junge ohne Eltern, der für einen Hungerlohn in einer Ziegelfabrik arbeitet. Sein Vetter Enayat hilft am Marktstand der Familie mit, bis dessen Vater beschließt, dass der Junge eine bessere Zukunft erleben und zum Familieneinkommen beitragen soll: Mit Hilfe von Menschenschmugglern soll er nach London gelangen. Jamal bietet sich an, ihn zu begleiten, denn er kann wenigstens ein bisschen Englisch. Jamals und Enayats Weg führt durch den Iran, die Türkei, Italien und Frankreich – eingeblendete Landkarten verdeutlichen die Reiseroute. Für ihre Weiterreise sorgen immer wieder Menschenschleuser, die gegen viel Geld eine Unterkunft und das nächste Fortbewegungsmittel zur Verfügung stellen.

Michael Winterbottom hat die Reise auf Originalschauplätzen mit Handkamera und ohne künstliches Licht gedreht. Die mit der mitfahrenden Kamera entstandenen grobkörnigen, bewegten Bilder vermitteln dem Zuschauer das Gefühl, das Geschehen aus nächster Nähe zu verfolgen – sie verleihen „In This World“ eine ungeheure Unmittelbarkeit. Besonders eindrücklich zum Ausdruck kommt dies in den verwischten Aufnahmen aus der iranisch-türkischen Grenze, wo Enayat und Jamal Schmugglern mit „trunkenen Pferden“ begegnen, die wir aus dem eingangs erwähnten Spielfilm Bahman Gohbadis kennen. Die surreale Szenerie, die das flackernde Licht der Schüsse der Grenzpatrouille in diesem Grau-im-Grau-Tableau mit nur noch als Schemen auszumachenden Figuren entfaltet, könnte eine Metapher für die surrealistische Reise durch die halbe Welt sein, die „In This World“ nachzeichnet, und die für Manche in einem versiegelten Transportcontainer enden wird.

Dieser Schiffscontainer ruft Erinnerungen an das furchtbare Schicksal der 58 Chinesen wach, die englische Zollbeamte im Juni 2000 in einem Transportcontainer in Dover tot auffanden. Auf der Berlinale im Februar 2003 bejahte Michael Winterbottom die Frage, ob er sich von dieser Tragödie habe inspirieren lassen: „Je stärker man das den Leuten in Erinnerung ruft, umso besser!“

Die fiktiven Dokumentationen innewohnende Verbindung von Fiktion und Leben setzt sich auch nach dem Ende von „In This World“ fort, wie das Schicksal Jamals deutlich macht: Nach Abschluss der Dreharbeiten nutzte Jamal, der im wirklichen Leben Jamal Udin Torabi heißt, sein noch gültiges Visum, um wieder in Großbritannien einzureisen, wo er unverzüglich Antrag auf Asyl stellte. Jamal darf in Großbritannien bleiben, bis er volljährig wird. Dann muss er das „gelobte Land“ verlassen – oder untertauchen.
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