5 JAHRE LEBEN | 5 Jahre Leben
Filmische Qualität:   
Regie: Stefan Schaller
Darsteller: Sascha Alexander Geršak, Ben Miles, Trystan Pütter, John Keogh, Timur Isik, Kerem Can, Siir Eloglu, Tayfun Bademsoy
Land, Jahr: Deutschland 2013
Laufzeit: 96 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: G
im Kino: 5/2013
Auf DVD: 11/2013


José García
Foto: Zorro Films

Fast fünf Jahre verbrachte der Deutsch-Türke Murat Kurnaz im berüchtigten US-Gefangenenlager von Guantanamo. Kurnaz wurde im November 2001 in Pakistan festgenommen und im Januar 2002 von einem US-Häftlingslager in Afghanistan nach Guantanamo verlegt. Im August 2006 wurde er freigelassen. Kurnaz blieb in Guantanamo 1725 Tage. Unter dem Titel „5 Jahre leben“ hat Drehbuchautor und Regisseur Stefan Schaller seinen Abschlussfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg gedreht.

„5 Jahre Leben“ konzentriert sich insbesondere auf die Verhöre, die der (real existierende) Ermittler Gail Holford (Ben Miles) Murat Kurnaz (Sascha Alexander Geršak) unterzieht. Obwohl Verhörspezialist Holford alles, auch Folter und Isolationshaft, daransetzt, zerbricht Kurnaz nicht: Er beteuert immer wieder seine Unschuld und wird freigelassen, ohne dass er irgendein Geständnis abgegeben hätte. Im Mittelpunkt des kammerspielartigen Films steht nicht nur ein Hinterfragen des „Systems Guantánamo“, sondern insbesondere auch das psychologische Duell zwischen Vernehmer und Verhörtem sowie die Frage, wie Murat Kurnaz ohne bleibende Schäden diese fünf Jahre Gefangenschaft überstehen konnte


Interview mit Regisseur Stefan Schaller und Hauptdarsteller Sascha Alexander Geršak

Warum wollten Sie diesen Film unbedingt machen, Herr Schaller?
Stefan Schaller: Es ist für mich einfach eine unglaubliche Geschichte, dass ein junger Mensch heil aus fünf Jahren Gefangenschaft wieder herauskommt. Murat Kurnaz ist 1982 geboren, er ist so alt wie ich. Er hat es hautnah erlebt, diese Gewalt, diese Willkür. Das hat mich nicht losgelassen. Nach dem 11. September gab es in der Gesellschaft und in der Politik gewisse Strömungen, die sehr einfach Prinzipien des Rechtsstaats aufgegeben haben. Das Thema ist immer noch aktuell, man sieht es jetzt wieder in Boston. Da hat eine Gesellschaft Angst. Keiner möchte Terrorismus erleben, aber die Frage ist: Wie geht man mit solchen Problemen um? Deswegen ist es für mich unglaublich wichtig, so einen Film zu machen. Um die Wichtigkeit des Themas und die Konsequenzen von politischem Handeln aufzuzeigen.

Herr Geršak: Wie haben Sie sich darauf vorbereitet, Murat Kurnaz darzustellen? Haben Sie sich mit ihm ausgetauscht?
Sascha Alexander Geršak: Vor den Dreharbeiten hatte ich mich noch gefragt, ob es gut ist, mich mit ihm zu treffen. Ob ich dadurch in meiner Freiheit der Darstellung eingeschränkt werde. Diese Treffen waren aber letztlich sehr gut und wichtig. Was Murat Kurnaz privat ausmacht, seine besondere Stärke direkt zu erleben. Ich glaube, ich hätte diese Zeit nicht überstanden. Vielleicht hätte ich es physisch überlebt, aber für meine persönliche Entwicklung wäre es ein so massiver Einschnitt gewesen, dass ich bestimmt bleibende Schäden davon getragen hätte. Wenn man in ein solches Lager hineingeht, ohne ein Terrorist zu sein, könnte es sein, dass man nach fünf Jahren als Terrorist hinauskommt. Murat Kurnaz hat hingegen überhaupt keinerlei Rachegefühle, was mit seinem Glauben zusammenhängt, auch das hat mich tief beeindruckt.

War die Filmentwicklung mit viel Recherche verbunden? Wie ist das Verhältnis zwischen Authentizität und künstlerischer Freiheit, die sich der Film durchaus nimmt?
Stefan Schaller: Wir hätten auch eine Art Dokufiktion als einen Bericht über die fünf Jahre drehen können. Ich finde die Dokumentarfilme zum Thema Guantanamo sehr stark. Aber die komplette Bandbreite des Themas konnten wir im Spielfilm nicht wiedergeben. Wir brauchten eine funktionierende Dramaturgie. Wir mussten uns klar machen, was wir im Kern erzählen wollten. Mir ging es in erster Linie um den Menschen, der sich trotz allem in diesem System eine innere Freiheit bewahrt. Wenn man es so will, ein philosophischer Gedanke. Das fand ich gerade spannend in einem Spielfilm zu erzählen mit einer eigenen ästhetischen Haltung gegenüber Gewalt. Bei der Recherche stießen wir natürlich auf viel Gewalt. Ich hatte große Sorge, dass der Zuschauer durch diese extreme Gewalt auch eine gewisse Distanz zur Figur aufbaut, Kurnaz wie durch einen Filter betrachtet. Wir haben uns daher eher auf eine psychische als physische Gewalt konzentriert, ihn entweder davon erzählen lassen und nicht nur den Fokus auf die Folterungen gelegt. Weil Murat Kurnaz in der Presse wie ein Unmensch dargestellt wurde, war es mir wichtig, seine Menschlichkeit darzustellen. Andererseits wollten wir zeigen, wie ein System der Abhängigkeit zwischen Vernehmer und Häftling funktioniert. Es gibt so viele Aspekte, dass ich es nicht allen recht machen kann. Deswegen musste ich trotz aller Recherche meinen Weg finden.

Sascha Alexander Geršak: Jeder versucht, seine Arbeit handwerklich-beruflich so gut wie möglich zu machen. In diesem Fall gab es einen speziellen Antrieb insofern, als wir uns fragten, ob wir der Wirklichkeit gerecht werden. Schaffen wir es, die Geschehnisse in Bilder zu fassen? Können wir es überhaupt darstellen? Man muss den Leuten vertrauen, mit denen man den Film macht. Man muss auch der Geschichte vertrauen, und sich dadurch auf die Realität einlassen.


Wie können Sie sich als Schauspieler auf so etwas wie Isolierhaft vorbereiten?
Sascha Alexander Geršak: Ich habe ein paar Versuche gemacht. Ich habe mich in einen kleinen Raum gesetzt und mir vorgenommen, die nächsten vier Stunden nicht herauszukommen. Aber mir war schon klar, dass das nicht an die Realität herankommt, weil ich immer weiß, dass ein Ende absehbar ist. Bei der Isolierhaft verliert man hingegen das Gefühl für Zeit und Raum, für Tag und Nacht, was gezielt verursacht wird durch Dauerbeleuchtung und Dauerbeschallung. Ein Schauspieler muss versuchen, es in der Vorstellung zu produzieren. Während der Dreharbeiten gab es dennoch solche Momente – etwa wenn von den Statisten, die die Mitgefangenen gespielt haben, einer hustete oder zwei miteinander flüsterten – in denen mir bewusst wurde, was es heißt, jahrelang wie Hühner in Gitterboxen zu sitzen. Jeder abgetrennt auf sechs Quadratmeter mit einer Toilette, einem Bett... Man kann sich in keine Ecke zurückziehen, man ist immer ausgestellt, immer in Verbindung mit den anderen. Das war schon eindrücklich.

Eigentlich handelt es sich bei „5 Jahre Leben“ um ein Kammerspiel zwischen dem Verhörer und dem Verhörten. Was sprach aber dafür, sich auf die Vernehmungen durch den Amerikaner zu konzentrieren und nicht die Reaktion in Deutschland zu zeigen?
Stefan Schaller: Die Deutschen sind ein Faktor, den ich für sehr wichtig halte und den ich sehr gerne gezeigt hätte. Aber es wäre missverständlich gewesen in unserer eigenen Dramaturgie, in die intime Situation zwischen Vernehmer und Murat plötzlich deutsche Beamte reinplatzen zu lassen. Dann hätte man deren Geschichte weiterverfolgen und zwangsläufig die sehr komplexen Sachervhalte auf deutscher Seite erläutern müssen, dabei wäre Murat als Protagonist aus dem Fokus geraten. Es war für mich eine schwere Entscheidung, entweder Murats Geschichte oder die politische Dimension. Beides in einem Film zu erzählen war mir nicht möglich. Denn ein zwar auf wahren Begebenheiten beruhendes, aber fiktionales, archaisches Spiel zwischen dem amerikanischen Vernehmer und Kurnat mit den drei BND-Beamten in Deutschland zu verknüpfen, hätte einen anderen Film ergeben. Außerdem hätte man da auch die Prozesse und Entscheidungen im Kanzleramt zeigen müssen, dann wäre es nicht mehr so stark um das individuelle, persönliche Schicksal gegangen, was der Auslöser für mich war, den Film zu machen. Ich verstehe, warum das angesprochen wird. Aber in unsere Dramaturgie hätte es nicht gepasst.

Haben Sie die Hoffnung, dass der Film etwas bewirkt, dass die Politik noch einmal darüber redet?
Sascha Alexander Geršak: Natürlich habe ich diese Hoffnung. Deswegen macht man solche Filme und nicht nur, um die Miete zu bezahlen. Ich hoffe sehr, dass der Film Menschen erreicht, die sich sonst nicht unbedingt dem Thema widmen würden, sich aber den Film anschauen – vielleicht nicht im Kino, aber später auf DVD oder im Fernsehen. Der Film macht viel Mut, dass jemand so etwas überstehen kann. Natürlich kann man sicher auch fragen, warum jemand kurz nach dem 11. September zu einer Koranschule nach Pakistan reist. Aber im Prinzip hätte das jedem von uns passieren können: Auch ich hätte ein Ingenieurstudium absolvieren und nach Pakistan fahren können, um mir die Staudämme anzuschauen. Dann fahre ich in einem Bus in einem grenznahen Gebiet, wie es bei Murat der Fall war, und werde aufgrund meiner Hautfarbe, weil ich nicht pakistanisch aussehe, aus dem Bus herausgeholt und für 3 000 oder 5 000 Dollar an die CIA verkauft.

Stefan Schaller: Ich bin vor allem gespannt wie („normale“?) weniger im Thema involvierte bzw. informierte Menschen auf den Film reagieren. Ich finde ganz wichtig, dass sich die Zuschauer mit dem Film und der Thematik hinterher weiter beschäftigen. Ob sich die Politik damit beschäftigt? Das kann ich nicht sagen. Wir haben bis heute einen Punkt nicht ganz aufgearbeitet: Ob ein System toleriert werden soll, das vorbei am Rechtsstaat agiert. Jetzt, da der Boston-Attentäter gefasst wurde, wird viel darüber diskutiert, wie er behandelt werden soll, die Öffentlichkeit bekommt das alles mehr oder weniger mit. Bei Guantánamo war der Schock über den 11. September so groß und so neu, dass trotz Warnungen von Experten Rechtsstaatsprinzipien aufgegeben und Kriege begonnen wurden. Vielleicht kann der Film dazu beitragen, dass die Menschen darüber reden und nachdenken. Ich hoffe vor allem, dass andere Menschen einen Zugang zu Murat bekommen

Kamen Ihnen auch manchmal Zweifel an der Darstellung der Geschichte?
Stefan Schaller: Zunächst einmal bin ich der Auffassung, dass Folter für einen Rechtsstaat nie ein legitimes Mittel sein kann. Ob ich Zweifel an Murats Unschuld hatte? Nein! Es gibt auch keinen Beweis der Gegenseite, die ihm etwas nachweisen wollte. Ich bin mir seiner Intention, mehr über seinen Glauben in Pakistan zu erfahren sicher, auch wenn ich verstehe, wenn man Murats Handeln naiv findet. Vielleicht gab es da Leute im entfernten Umfeld der Moschee oder in gewissen Islamischen Kreisen, die ihn im Visier hatten. Darüber eine Schuld bei ihm zu suchen, ist aber ein großer Fehler. Und lenkt von viel entscheidenderen Fragen ab. Ich denke, man hatte große Angst, wie man mit dem Fall verfahren soll, man wollte Stärke demonstrieren und eben begangene Fehler wieder gut machen. Wir dürfen nicht vergessen, die Attentäter des 11. September kamen aus Hamburg, auch in Deutschland gab es eine große Angst vor Anschlägen.

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