STATIONSPIRATEN | Stationspiraten
Filmische Qualität:   
Regie: Michael Schaerer
Darsteller: Scherwin Amini, Vincent Furrer, Max Hubacher, Elia Robert, Nicolas Hugentobler, Stefan Kurt, Jill Gioia Mühlemann
Land, Jahr: Schweiz 2010
Laufzeit: 93 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: D
im Kino: 1/2013


José García
Foto: alpha medienkontor

Sie spielen Karten oder Gitarre in einem Krankenhauszimmer: Die Jugendlichen Kevin (Scherwin Amini), Benji (Vincent Furrer), und Michi (Max Hubacher) haben Krebs. Die Krankheit und die Chemotherapie haben Spuren hinterlassen: Nicht nur dass sie kahlgeschoren sind. Bei Kevin und Michi musste ein Unterschenkel amputiert werden. Die beiden reagieren allerdings gegensätzlich darauf: Hofft der fußballverrückte Michi mit einer Prothese bald wieder richtig spielen zu können, so gibt Kevin jede Hoffnung auf. Und dies, obwohl Dr. Reichlin (Stefan Kurt) ihm immer bessere Werte bescheinigt. Benji überspielt seine Angst vor dem Tod mit frechen Sprüchen und dem Wunsch, ein Model kennenzulernen. Benjis Prognose ist schlecht, da bei ihm die Chemotherapie nicht richtig anschlägt. Der Jüngste in der Schweizer Kinderonkologiestation, der zehnjährige Jonas (Elia Robert), scheint bereits mit dem Leben abgeschlossen zu haben. Eine Patientenhilfsorganisation hat seinen „Wunsch des Lebens“ erfüllt: Jonas durfte bei einem Linienflug im Cockpit sitzen. Nun versucht er Benji zu helfen, sich endlich nicht mehr hinter einer Maske vor sich selbst zu verstecken und seine Situation anzunehmen.

Mit seinem Spielfilmdebüt „Stationspiraten“ verfilmt Michael Schaerer den spanischen Film „Planta 4ª“ (Antonio Mercero, 2003) neu, der wiederum auf dem teilweise autobiografischen Theaterstück „Los Pelones“ („Die Kahlgeschorenen“) von Albert Espinosa basiert. Das Drehbuch verfasste Jürgen Ladenburger, der unerwartet weniger als vier Wochen vor Drehstart starb. Zu dem Film hatte der Drehbuchautor geschrieben: „Stationspiraten soll vom Leben erzählen. Es ist keine Geschichte über den Kampf gegen den Tod. Diesen Kampf verlieren wir ohnehin. Nein, es ist eine Geschichte, die vom bewussten Leben erzählt. Die von der Chance erzählt, sich des Lebens bewusst zu werden. Benji, Michi, Kevin, Sascha und Jonas, unsere Protagonisten, haben eines gemeinsam: In ihrer Jugend erfährt ihre Biografie einen abrupten Einschnitt. Bei vier von ihnen wird lebensbedrohender Krebs diagnostiziert. Ihr Umgang mit diesem Schicksalsschlag, der ihre Lebenswelt und alles, was bisher war und galt, auf den Kopf stellt, steht im Mittelpunkt des Films.“ Das Produktionsdesign setzt diese Stimmung in helle, warme Farben um, die Hoffnung heraufbeschwören. Die Kamera von Stéphane Kuthy fängt die Gemütslage der Jugendlichen ein, indem sie manchmal in Großaufnahme zeigt, manchmal respektvoll von ihnen wegrückt.

Eine erste Veränderung bringt die Verlegung des kleinen Jonas nach Zürich wegen einer Knochenmarktransplantation. Bald darauf kommt ein Neuer: Beim Tennisspieler Sascha (Nicolas Hugentobler) wurde ein dunkler Fleck auf dem Unterschenkelknochen entdeckt, der mit Verdacht auf einen Tumor untersucht werden soll. Entsprechend erwartungsvoll und verunsichert wartet Sascha auf seine Diagnose. Obwohl er sich zunächst als Außenseiter fühlt, integriert er sich nach und nach in die Gemeinschaft.

Regisseur Michael Schaerer verknüpft die verschiedenen Geschichten der Jugendlichen zu einem stimmigen Bild. Dramaturgisch bietet das meiste Potenzial Kevin, weil er trotz günstiger Prognose keine Kraft mehr spürt, die ganze Chemo-Behandlung wieder einmal über sich ergehen zu lassen. Erst als er Laura (Jill Gioia Mühlemann) kennenlernt, die im selben Krankenhaus wegen Magersucht behandelt wird, bekommt sein Leben einen ganz neuen Antrieb. Schade nur, dass Lauras Figur kaum Konturen erhält. Lediglich funktional wirken ebenfalls die Stationsschwestern: Auf der einen Seite die 40jährige Marion (Bettina Stucky), die selber Kinder hat und aus Angst, die Jungs zu lieb zu gewinnen, keine große Nähe zulässt. Auf der anderen Seite die junge Liz (Lea Whitcher), die von den Schicksalen der Kranken immer wieder nachhaltig erschüttert wird.

Mit zunehmender Dauer schleicht sich in die Handlung eine etwas künstliche Dramatik ein. Es fällt ebenso auf, dass – etwa im Vergleich zu Eric Emmanuel Schmitts „Oskar und die Dame in Rosa“ (siehe Filmarchiv) – die Frage nach einem Leben nach dem Tod, abgesehen von eher scherzhaft gemeinten Bemerkungen über Wiedergeburt, kaum gestreift wird. Trotz dieser Schwächen berührt „Stationspiraten“ den Zuschauer insbesondere wegen des frisch-authentischen Spiels der jugendlichen Darsteller. Das Wechselbad der Gefühle, von ihren Scherzen über ihre Unsicherheit bis hin zu den Wutausbrüchen wirken stets glaubwürdig. Aber auch die Rolle des Stationsarztes ist mit Stefan Kurt bestens besetzt: Stefan Kurts Dr. Reichlin weiß immer den richtigen Ton zu treffen, auf der einen Seite die Scherze der Jungs mitzutragen, auf der anderen Seite aber auch zu gegebener Zeit auf den Ernst der Lage hinzuweisen. Alles in allem ein außergewöhnliches Spielfilmdebüt, das ohne falsche Sentimentalitäten dem Zuschauer sehr nahegeht.
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