WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN | We need to talk about Kevin
Filmische Qualität:   
Regie: Lynne Ramsay
Darsteller: Tilda Swinton, John C. Reilly, Ezra Miller, Jasper Newell, Rock Duer, Ashley Gerasimovich, Siobhan Fallon Hogan, Alex Manette, Kenneth Franklin, Paul Diomede
Land, Jahr: Großbritannien 2011
Laufzeit: 110 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: Erwachsene
Einschränkungen: G, X
im Kino: 8/2012
Auf DVD: 9/2012


José García
Foto: KinoKontrovers

Immer wieder erschüttern Meldungen über Amokläufe die Öffentlichkeit, so zuletzt bei einer nächtlichen Filmpremiere von „The Dark Knight Rises“ am 20. Juli in einem Kino in Aurora/Colorado. Als mögliche Ursache für die Entstehung solcher Jugendgewalt wird häufig auf den Einfluss von Gewalt verherrlichenden Internet- und Computerspielen verwiesen. In einem 2003 veröffentlichten und 2005 mit dem prestigeträchtigen britischen „Orange Prize for Fiction“ ausgezeichneten Briefroman „We Need to Talk About Kevin“ (deutsch „Wir müssen über Kevin reden“, 2006) geht Autorin Lionel Shriver allerdings der Frage nach, inwieweit die Eltern für die Entwicklung eines jugendlichen Amokläufers mitverantwortlich sind. Die britische Drehbuchautorin und Regisseurin Lynne Ramsay hat nun Shrivers Roman für die Leinwand adaptiert, wobei sie sich auf den „psychischen Horror hinter der Geschichte“ konzentrierte. Laut der Regisseurin interessierte sie insbesondere „das Trauma einer verzweifelten Mutter, die sich fragt, wieviel Mitschuld sie an der Bluttat ihres Sohnes trägt“.

Der Anfang von Ramsays „We need to talk about Kevin“ zeigt eine von der entsprechenden Musik untermalte, typische Horrorfilm-Szenerie: Ein dunkles Zimmer mit im Wind wehenden Vorhängen vor einem Balkon, auf den die Kamera langsam fährt. Dann folgt ein Schnitt. Eine mit dem Filmthema kaum zusammenhängende, lediglich die Assoziation von in Blut getränkten Leibern erweckende Massenszene aus der „Tomatenschlacht“ in der spanischen Kleinstadt Bruñol taucht die Leinwand in Rot. Rot ist auch die Farbe einer Kerze in einem ebenfalls in rötliche Töne getauchten Zimmer. Es gehört zu einem schäbigen Haus, dessen Fassade wie das davor stehende Auto mit ebenso roter Farbe beschmiert wurde. Rot als symbolische Farbe prägt Ramsays Film von Anfang an. Resigniert wischt Eva (Tilda Swinton) die gröbste Farbe vom Auto und fährt davon. In einem kleinen Reisebüro bekommt sie Arbeit, wird aber bald darauf auf offener Straße von einer Passantin geohrfeigt. In einem Supermarkt versteckt sich Eva sogar vor einer Mutter.

Den Grund erfährt der Zuschauer bald: Ihr Sohn Kevin (Ezra Miller) sitzt im Gefängnis, nachdem er kurz vor seinem 16-jährigen Geburtstag in der örtlichen Schule ein Blutbad angerichtet und mehrere Klassenkameraden mit Pfeil und Bogen getötet hatte. Evas Gedanken und Träume kreisen seitdem um die einzige Frage, wie es zu dieser furchtbaren Tat kommen konnte. In einer langen Rückblende erzählt der Film von den dunklen Vorahnungen, die sie von der Geburt ihres Sohnes an beschlichen. Denn bereits als Baby und kleines Kind (Rock Duer/Jasper Newell) zeigt Kevin eine eigenwillige Distanz, die es Eva schwer macht, Nähe aufzubauen. Während Vater Franklin (John C. Reilly) an seinem Sohn nichts Ungewöhnliches sieht, ist die Mutter besorgt über die mangelnde Empathie und seine Lust an Zerstörung. Eva quält immer wieder die Frage, ob sie eine Mitschuld trägt, weil sie seit dem Beginn ihrer Schwangerschaft Kevin als „Eindringling“ begriff, der ihren Lebensentwurf zerstörte. Denn die Schwangerschaft und der Umzug in die Kleinstadt, der Kevin eine schönere Umgebung bieten sollte, setzten ihrer Arbeit als Reisejournalistin und Abenteurerin ein Ende.

Mit kunstvollen Schnitten und durch die durchdachte Einbeziehung von Traumsequenzen und Rückblenden bedingten, suggestiven Zeitsprüngen schafft „We need talk about Kevin“ einen Reflexionsraum für die entscheidende Schuldfrage. Zwar sperrt sich der Film gegen eindeutige Erklärungen. „Warum? Ich dachte, ich wüsste es, bin mir aber nicht mehr sicher“, sagt etwa der 16-jährige Kevin auf die Frage seiner Mutter. Das psychologische Duell zwischen dem Kind und der Mutter, das Ramsay in pointierten Szenen immer wieder in den Mittelpunkt rückt, verdeutlicht jedoch, dass Mutter und Sohn bei aller Fremdheit und Sprachlosigkeit auch nicht so unterschiedlich sind. Die Inszenierung spielt sogar hin und wieder mit Spiegelungen, die darauf hinweisen, dass Kevin ihm die von seiner Mutter zugedachte Rolle eines „Störenfrieds“ einfach mit brachialer Gewalt zu Ende spielt. In diesem Kontext ist ebenfalls die Rolle des Vaters zu werten, der die Warnungen seiner Frau in den Wind schlägt und Kevins problematische Züge gar nicht wahrnehmen will. Insofern nimmt „We need talk about Kevin“ eine gesellschaftskritische Haltung gegenüber denjenigen ein, die aus Egoismus ein Kind als „Eindringling behandeln“.

Über die kunstvolle, manchmal jedoch eine Spur zu künstliche Inszenierung hinaus beeindrucken insbesondere die Schauspieler. Tilda Swinton verkörpert die völlig überforderte Mutter auf überaus überzeugende Weise. Von der postpartalen Depression über ihre Versuche, Verständnis für das sie immer wieder zurückweisende Verhalten ihres Sohnes, bis hin zu den Schuldzuweisungen – Swinton gestaltet all diese Empfindungen authentisch. Das gleiche gilt auch für den Kinderdarsteller Jasper Newell und insbesondere auch für Ezra Miller, der die Abneigung des 16-jährigens Kevin gegen seine Familie und gegen die Gesellschaft vor allem mit verächtlichen Blicken und minimalistischen Gesten ohne zu chargieren darstellt.
Diese Seite ausdrucken | Seite an einen Freund mailen | Newsletter abonnieren