TÖTE MICH | Töte mich
Filmische Qualität:   
Regie: Emily Atef
Darsteller: Maria Dragus, Roeland Wiesnekker, Wolfram Koch, Christine Citti, Anne Bennent, Robert Hunger-Bühler, Jean-Jérôme Esposito, Matthias Breitenbach
Land, Jahr: Deutschland / Frankreich / Schweiz 2011
Laufzeit: 91 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: X
im Kino: 7/2012
Auf DVD: 3/2013


José García
Foto: farbfilm

Eine Fünfzehnjährige will sterben, schafft es aber nicht, sich selbst zu töten. Eine günstige Gelegenheit bietet sich ihr, als ein wegen Totschlags Verurteilter nach seinem Ausbruch aus dem Gefängnis ihre Hilfe zur Flucht in Anspruch nimmt. Sie verspricht ihm ihre Hilfe unter einer Bedingung: Sobald der Sträfling in Sicherheit ist, soll er sie töten. Dieser zwar etwas konstruierte, aber originelle Ausgangspunkt entwickelt sich in Emily Atefs Spielfilm „Töte mich“ zu einem genretypischen Roadmovie, in dem sich zwei auf den ersten Blick sehr verschiedene Menschen näher kommen und dadurch auch entwickeln. Trotz schöner Landschaftsaufnahmen und guter Darsteller gelingt es dem Film jedoch letztlich nicht, eine durchgängige Spannung zu erzeugen, die über die Logiklöcher im Drehbuch hinweggeholfen hätte.

Ein Mädchen steht in einer malerischen Landschaft am Abgrund. Einen Moment lang scheint es, als würde sich die 15-jährige Adele (Maria Dragus) hinunterstürzen. Dann kehrt sie aber um, sammelt die Kühe ein und bringt sie zum Bauernhof ihrer Eltern. Dass Adeles Vater Julius (Wolfram Koch) ziemlich streng ist, zeigt sich sofort in der nächsten Szene: Adele soll schnellstens die Kuh suchen gehen, die sie auf dem Weg verloren hat. Der Grund für den Sterbewunsch der 15-Jährigen liegt aber woanders, wie der Zuschauer nach einem scharfen Schnitt erfährt: Sie faltet ein T-Shirt auf einem Bett aus. Es gehörte dem vor einem Jahr ums Leben gekommenen Bruder, mit dem Adele sehr verbunden war. Die Hintergründe seines Todes bleiben zwar unbekannt, aber es wird deutlich, dass sich die Fünfzehnjährige am Tod des Bruders mitschuldig fühlt. Ausgerechnet in diesem Augenblick taucht ein Gefängnisausbrecher im Haus unvermittelt auf: Timo (Roeland Wiesnekker) ist während eines Feuers aus dem Gefängnis ausgebrochen, in dem er seit acht Jahren wegen Tötung einsitzt. Sein Ziel: Sich nach Afrika einzuschiffen, um ein neues Leben zu beginnen. Dafür muss er sich allerdings nach Marseille durchschlagen, wo er außerdem eine offene Rechnung mit seinem Halbbruder zu begleichen hofft. Adele erklärt sich bereit, ihm dabei zu helfen. Als Gegenleistung verlangt sie von Timo nur, dass er das tut, was sie allein nicht in der Lage zu tun ist. Daher der Filmtitel „Töte mich“. Im Laufe der Zeit kommen sich Timo und Adele freilich näher. So kümmert sich der Ausbrecher um die 15-Jährige, als sie erschöpft zusammenbricht. Sie wiederum findet in Timo einen Ersatz für den toten Bruder oder auch für den strengen Vater.

In ihrem letzten Kinofilm „Das Fremde in mir“ (siehe Filmarchiv) hatte sich die in Berlin als Tochter französisch-iranischer Eltern geborene Emily Atef eines schwierigen Themas angenommen, der „Postpartalen Depression“, die sich insbesondere auch in ambivalenten Gefühlen der Mutter dem Kind gegenüber äußert. Dank einer kargen, aber überaus konzentrierten Inszenierung und der intensiven Darstellung durch hervorragende Schauspieler schaffte es Emily Atef, den Zuschauer emotional zu berühren. Entstand in „Das Fremde in mir“ in keinem Augenblick der Eindruck, es handele sich um eine Art Versuchsanordnung, so ist das bei „Töte mich“ aber genau der Fall. Über die Konstruiertheit der Ausgangssituation hinaus nehmen im Laufe der Handlung die unglaubwürdigen Situationen überhand. Die Konzentriertheit der Inszenierung auf knappe Dialoge, vor allem aber auf die Gesten und Blicke der Schauspieler und auf den Einfluss der von der Regisseurin selbst als „dritten Protagonisten“ bezeichneten Landschaft auf die Figuren wird von kleinen, aber die Haupthandlung störenden Episoden am Rande konterkariert.

Dank der anfänglichen kargen Inszenierung und der lakonischen Erzählweise gelingt Emily Atef dennoch ein verstörender Film über zwei Menschen, die auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein könnten, die aber nach und nach im Mangel an liebvoller Zuwendung ihre Gemeinsamkeit entdecken. Roeland Wiessneker verkörpert den abgehetzten Timo mit einer Mischung an vordergründiger roher Gewalt und innerer Zerbrechlichkeit. Maria Dragus, die dem Zuschauer aus Michael Hanekes „Das weiße Band“ bestens in Erinnerung geblieben ist, drückt die Abgeklärtheit, aber auch die tiefe Unsicherheit einer Heranwachsenden ausgezeichnet aus. Sie ergänzen sich darüber hinaus so, dass die Entwicklung aus der bloßen Zweckgemeinschaft zum von einer gegenseitigen Zuneigung getragenen Duo glaubwürdig wirkt. Trotz einer gewissen Künstlichkeit stellt sich „Töte mich“ als eine in einer schönen Landschaft angesiedelte Fahrt in die Seelen zweier verletzter Menschen heraus.
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