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José GarcÃa Foto: filmkinotext In den letzten Jahren war oft von âMissbrauchsfällenâ in kirchlichen und staatlichen Einrichtungen oder auch in Privatschulen die Rede. Noch im Februar sprach Georg Ehrmann, Vorsitzender der Deutschen Kinderhilfe, in einer âReport Mainzâ- Sendung (ARD, 14.02.2012) vom âtägliche(n) Missbrauch von Jungen und Mädchen in deutschen Behinderteneinrichtungenâ. Die Sendung berief sich auf eine im Auftrag des Bundesfamilienministeriums von der Universität Bielefeld durchgeführte Untersuchung. Die Sozialwissenschaftlerin Monika Schröttle, die das Untersuchungsprojekt leitete, geht davon aus, dass âauf jeden Fall mehrere tausend Frauenâ in deutschen Behindertenheimen und -Einrichtungen sexuell missbraucht wurden. Täter sind der Studie zufolge meist Bewohner, aber auch Personal. Jährlich werden in Deutschland laut Polizeilicher Kriminalstatistik 2008 mehr als 12.000 Kinder sexuell missbraucht, wobei die Dunkelziffer weitaus höher liegt. Ãber die Hälfte der Opfer ist mit dem Täter verwandt, bei rund 20 Prozent handele es sich sogar um den eigenen Vater, bei weiteren 20 Prozent um den Stiefvater beziehungsweise den neuen Partner der Mutter, sagt Bärbl Meier vom Verein âWildwasserâ. Dass es bei jedem âMissbrauchsfallâ nicht um irgendetwas Abstraktes, sondern stets um einen missbrauchten Menschen geht, das verdeutlicht Christoph Röhl mit seinem Dokumentarfilm âUnd wir sind nicht die Einzigenâ, der die missbrauchten Schüler der südhessischen Odenwaldschule zu Wort kommen lässt. Lange Zeit galt die âOSOâ genannte Odenwaldschule als eine der besten Internatsschulen Deutschlands sowie als Vorzeigeeinrichtung der Reformpädagogik. Anfang 2010 wurden einige Berichte bekannt, laut denen an der âOSOâ jahrzehntelang Schüler sexuell missbraucht wurden. Bis heute haben sich knapp 130 Opfer persönlich gemeldet, 18 Täter sind namentlich bekannt. Der in Brighton, England geborene deutsch-britische Regisseur Röhl, der selbst an der Odenwaldschule zwei Jahre lang als Englisch-Assistent tätig war, nutzte seine Beziehungen, um ehemalige Schüler und Lehrer der âOSOâ zu interviewen. Daraus entstand Christoph Röhls Debütfilm âUnd wir sind nicht die Einzigenâ. Im Mittelpunkt steht zunächst einmal die Frage, wie der systematische Missbrauch jahrzehntelang unbemerkt beziehungsweise geduldet werden konnte. Auch wenn einige OSO-Lehrer beteuern, nichts davon mitbekommen zu haben, erklärt Barbara Bastian, Pädagogische Assistentin des Schulleiters Wolfgang Herder von 1983-1995, unmissverständlich: âEs war klar, dass einige Lehrer eine Beziehung zu Schülern hattenâ. Viele Missbrauchsfälle ereigneten sich in den Jahren 1972-1985, als Gerold Becker Schulleiter war. Bevor Becker im Juli 2010 starb, hat er denn auch in einem Brief an die Schulleitung sexuelle Verfehlungen zugegeben und sich dafür entschuldigt. An die Ãffentlichkeit, gingen zwei Schüler bereits 1999. Als sie erfuhren, dass Gerold Becker im Jahre 1998 an die Odenwaldschule zurückgekommen war, wandten sie sich zunächst an die Schule mit einem âUnd wir sind nicht die Einzigenâ überschriebenen Brief, auf den allerdings keine Antwort kam. âNiemand wollte mit uns sprechenâ, sagt einer der beiden im Film, der anonym bleiben möchte â übrigens, der Einzige, dessen Gesicht verzerrt wiedergeben wird. Denn alle anderen Interviewten sprechen offen vor der Kamera und werden auch mit Namen genannt. Im November 1999 veröffentlichte Jörg Schindler in der âFrankfurter Rundschauâ einen Artikel über den Brief der zwei OSO-Ehemaligen. Vor Röhls Kamera sagt er, er sei âüberrascht gewesen, dass so gut wie keine Reaktion kam.â. Die interviewten Betroffenen sind ausnahmslos Männer. Sie sprechen frontal in die Kamera vor neutralem Hintergrund. Der Interviewer ist weder zu sehen noch zu hören. Keine Offstimme unterbricht ihren Redefluss oder kommentiert ihre Aussagen, so dass der Zuschauer unmittelbar mit den erlittenen Verletzungen der ehemaligen OSO-Schüler konfrontiert wird. So verschieden sie auch sind, so unterschiedlich sie auch ihre Verwundungen verarbeitet haben, eins ist ihnen allen gemeinsam: An den Folgen des Missbrauchs haben sie auch noch heute zu tragen, und wenn er Jahrzehnte zurückliegt. Nur für ein paar Minuten unterbricht Regisseur Röhl die Interviewsituation, zeigt einen leeren Flur, von Musik unterlegte Bilder der Schule, etwa des belebten Schulhofs in einer Totale. Der Film sucht nach den Ursachen, fragt: âWo beginnt Missbrauch?â Von nahtlosem Ãbergang ist die Rede in einem Ambiente, in dem Lehrer wie Wolfgang Held die Nähe der Schüler suchten. âIrgendwann einmal war es das Natürlichste von der Welt, dass ich bei ihm im Bett übernachteteâ, erläutert einer der Interviewten. Christoph Röhl beschäftigt sich aber auch mit dem Schweigen, vom systematischen Ignorieren gewisser Indizien, beispielsweise vom allfällig hohen Alkoholkonsum, mit dem sich die missbrauchten Schüler zu betäuben suchten. âUnd wir sind nicht die Einzigenâ berührt den Zuschauer gerade durch seine einfachen filmischen Mittel, weil sich dieser mit den Betroffenen unmittelbar konfrontiert sieht. |
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