SARAHS SCHLÜSSEL | Elle s'appelait Sarah
Filmische Qualität:   
Regie: Gilles Paquet-Brenner
Darsteller: Kristin Scott Thomas, Mélusine Mayance, Niels Arestrup, Frédéric Pierrot, Michel Duchaussoy, Dominque Frot
Land, Jahr: Frankreich 2010
Laufzeit: 104 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 12 Jahren
Einschränkungen: --
im Kino: 12/2011
Auf DVD: 4/2012


José García
Foto: Camino

Die Judendeportationen aus dem Großraum Paris während der deutschen Besetzung stellen ein lange Zeit verdrängtes Kapitel französischer Geschichte dar. Erst 1995 entschuldigte sich der damalige französische Präsident Jacques Chirac offiziell für die „Rafle du Vel’ d’Hiv’“ („Razzia des Winter-Velodroms“): Am 16. Juli 1942 verhafteten französische Polizisten im Auftrag der Vichy-Regierung 13 152 jüdische Männer, Frauen und Kinder, von denen etwa 7 000 in die Radsporthalle „Vélodrome d’hiver“ verschleppt wurden, wo sie tagelang bei unerträglicher Hitze ohne Trinkwasser und unter schlimmsten sanitären Verhältnissen ausharren mussten. Von dort wurden sie in ein Konzentrationslager südlich von Paris und dann in die Vernichtungslager gebracht. Eine filmische Aufarbeitung dieser Ereignisse bot erstmalig Rose Boschs Spielfilm „La Rafle“ („Die Kinder von Paris“, siehe Filmarchiv). Siedelte Rose Bosch ihren Spielfilm ausschließlich im Juli 1942 an, so verknüpft der nun im Kino anlaufende Spielfilm „Sarahs Schlüssel“ („Elle s’appelait Sarah“) die Ereignisse aus der „Rafle du Vel’ d’Hiv’“ mit einem zeitgenössischen Handlungsstrang.

Basierend auf dem 2007 erschienenen, gleichnamigen Roman von Tatiana de Rosnay beginnt „Sarahs Schlüssel“ mit den Spielen der 10-jährigen Sarah (Mélusine Mayance) und ihres 4-jährigen Bruder Michel. Sie werden jäh unterbrochen, als die französische Polizei in die Wohnung eindringt. Um ihren kleinen Bruder dem Zugriff der Polizei zu entziehen, kommt Sarah auf den Gedanken, Michel in einem verborgenen Wandschrank zu verstecken. Sie schließt den 4-Jährigen dort ein und steckt den Schlüssel in die Tasche, in der Hoffnung, bald wieder nach Hause zu kommen. Es folgen die Bilder, die der Zuschauer bereits aus Rose Boschs Spielfilm kennt: Sarah wird mit ihren Eltern ins hoffnungslos überfüllte Stadion und von dort in ein Internierungslager gebracht. Der 10-Jährigen gelingt jedoch die Flucht aus dem Zwischenlager.

Regisseur Gilles Paquet-Brenner, der zusammen mit Serge Joncour auch das auf dem Roman beruhende Drehbuch verfasste, verknüpft Sarahs Geschichte mit den Recherchen, die siebenundsechzig Jahre später die in Paris arbeitende amerikanische Journalistin Julia Jarmond (Kristin Scott Thomas) für einen Artikel über die damalige Razzia und ihre furchtbaren Folgen anstellt. Dabei stößt sie auf das Schicksal einer jüdischen Familie, die aus derselben Wohnung vertrieben wurde, die seit Jahrzehnten der Familie ihres Mannes Bertrand (Frédéric Pierrot) gehört, und in die sie nach deren Renovierung einziehen möchten. Im Rahmen ihrer Nachforschungen erfährt die Journalistin, dass Sarah die Shoa überlebte. Ihre Spurensuche führt Julia bis nach Brooklyn und zu Sarahs Sohn nach Florenz. Die Ergebnisse ihrer Ermittlungen fördern darüber hinaus längst Verdrängtes aus der Vergangenheit von Bertrands Familie, aber auch aus Frankreichs Geschichte zu Tage.

Über den dramaturgischen Zufall hinaus, dass Julia just in dem Augenblick, als sie über die Juli-Razzia einen Artikel schreiben soll, auch das in der Familie ihres Mannes lange gehütete Geheimnis erfährt, fallen die plakativen Figuren auf, etwa der jungen Journalisten, die Julia über die Ereignisse im Juli 1942 aufklärt. Auch die Inszenierung der mit teils gefühliger Musik untermalten, in der Vergangenheit angesiedelten Sequenzen wirkt altbekannt. Die Stärke von „Sarahs Schlüssel“ liegt indes in der zeitgenössischen Sicht auf die damaligen Ereignisse. Auch wenn dies mit sich bringt, dass Sarahs Geschichte in Rückblenden eher bruchstückhaft geschildert wird, zeigt Paquet-Brenners Film die Nachwirkungen solcher Ereignisse bis in die Gegenwart hinein. Eine gewisse Parallele wird etwa auch in einem Subplot deutlich: Zum Zeitpunkt der Recherche wird Julia schwanger. Während ihr Mann sie zu einer Abtreibung bewegen will, entscheidet sich die Journalistin für ihr Kind. Eine Entscheidung auf Leben und Tod – wie damals.

„Sarahs Schlüssel“ ist zwar ein fiktiver Film, der aber auf einem gut dokumentierten Roman basiert. Dadurch, dass Gilles Paquet-Brenners Film auf das Verhalten normaler Menschen schaut, entgeht er der Versuchung, die Menschen „in Kollaborateure und Kämpfer der Résistance zu unterteilen“, so der Regisseur selbst. Dabei überzeugt Kristin Scott Thomas als Julia, die laut dem Regisseur „das Gewissen des Publikums ist. Partei ergreifend, aber mit einem hohen Maß von Objektivität“. Diese distanzierte Sicht etwa auf das Verhalten derer, die zwar nicht in die Verbrechen verstrickt waren, aber dennoch davon profitierten, ermöglicht ein nuanciertes, „historisches“ Urteil, das mit Schuldzuweisungen viel behutsamer umgeht als etwa Rose Boschs Spielfilm „Die Kinder von Paris“.
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