HALT AUF FREIER STRECKE |
Filmische Qualität:   
Regie: Andreas Dresen
Darsteller: Milan Peschel, Steffi Kühnert, Talisa Lilly Lemke, Mika Nilson Seidel, Ursula Werner, Otto Mellies, Christine Schorn, Inka Friedrich
Land, Jahr: Deutschland 2011
Laufzeit: 110 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: X
im Kino: 11/2011
Auf DVD: 8/2012


José García
Foto: Pandora

Vom Sterben nach schwerer Krankheit handeln unzählige Hollywood-Filme – von „Love Story“ (Arthur Hiller, 1970) über „Zeit der Zärtlichkeit“ (James L. Brooks, 1983) bis „Marvins Töchter“ (Jerry Zaks, 1996). Im Gegensatz zu diesen zuweilen mittels Hochglanzbilder inszenierten Dramen zeichnet sich Andreas Dresens nun im Kino anlaufender Spielfilm „Halt auf freier Strecke“ durch gänzliche Unsentimentalität aus.

Geradezu spröde fällt bereits die Eingangssequenz aus: Frank (Milan Peschel) und Simone (Steffi Kühnert) sitzen wort- und fassungslos vor dem Arzt, der ihnen die Diagnose verkündet. Grund für die Kopfschmerzen, an denen Frank seit einiger Zeit leidet, sei ein bösartiger Gehirntumor. Wegen der Region, in der er sich befindet, sei der Tumor inoperabel, führt der Arzt weiter aus. Zur beklemmenden Stimmung tragen insbesondere die knappen Antworten und noch mehr die Pausen bei, die im Laufe des Gesprächs entstehen. Die Authentizität der Szene wird dadurch unterstrichen, dass der Mediziner nicht von einem Schauspieler, sondern vom Potsdamer Neurochirurgen Uwe Träger verkörpert wird, der sich laut Dresen durch eine „Mischung aus einer großen Sachlichkeit und Empathie“ auszeichnet. Zur Glaubwürdigkeit der Anfangssequenz trägt ebenso bei, dass für diese Szene die Schauspieler sozusagen ins kalte Wasser springen mussten: „Wir wussten nicht wirklich, was uns in diesem Zimmer von Dr. Träger erwartet. Es kam, wie es kam“, führt etwa Steffi Kühnert dazu aus.

Die unheilvolle Nachricht kommt gerade in dem Augenblick, als sich Frank und Simone Lange einen Lebenstraum erfüllt hatten: Zusammen mit den Kindern Lilli (Talisa Lilli Lemke) und Mika (Mika Nilson Seidel) sind sie in ein eigenes Reihenhaus mit kleinem Garten am Stadtrand eingezogen. Andreas Dresen zeigt nicht nur, wie ein Mensch auf halber Strecke des Lebens auf die Nachricht reagiert, ihm bleiben nur noch wenige Monate zu leben. „Halt auf freier Strecke“ bezieht ebenso die Umgebung des Kranken ein.

Einerseits führt Regisseur Dresen gewissermaßen ein filmisches Tagebuch über die verschiedenen Entwicklungsstufen von Franks Erkrankung, vom anfänglichen Schock über den Versuch, ein gewisses normales Leben zu führen, bis hin zu dem Verlust der Kontrolle über die eigenen Empfindungen, was ihn reizbar macht, und über den eigenen Körper, was zur Vergesslichkeit und teilweise zu Desorientierung führt. In diesem Zusammenhang ist auch die Szene zu werten, in der sein eigener Gehirntumor (dargestellt von Thorsten Merten) von Harald Schmidt in einer Talkshow interviewt wird. Der auf den ersten Blick humoristisch bis klamaukig wirkende Auftritt zeigt nicht nur den Kontrollverlust über das eigene Ich an. Darüber hinaus signalisiert er auch die Verkürzung in der Wahrnehmung: Der Kranke erlebt selbst eine Fernsehsendung unter den Vorzeichen der eigenen Krankheit. Damit korrespondiert Franks Wunsch, die objektivierte Sicht auf sich selbst in Form von mit der Handykamera aufgenommenen Videos festzuhalten.

Auf der anderen Seite interessiert sich Andreas Dresen aber auch für die Auswirkungen der Krankheit auf die ganze Familie: Obwohl Simone darauf besteht, ihren Mann zu Hause zu pflegen, fühlt sie sich damit zunehmend überfordert. Auch die Reaktionen der Kinder – als Mika seinen Vater fragt, ob er sterben werde, sagt er direkt: „Kriege ich dann dein iPhone?“ – zeigen eine Unmittelbarkeit, die alles andere als rührselig wirkt. Bei aller Unsentimentalität, die „Halt auf halber Strecke“ prägt, kann Dresens Film nicht nur um als Sterbensdrama, sondern ebenso als Familienfilm bezeichnet werden. Denn die Zerreißprobe, die Franks Krankheit für seine Frau und seine Kinder darstellt, schweißt einerseits die Familie noch enger zusammen. Andererseits gibt sie Frank Halt in dieser schwierigen Lage – was dem Filmtitel eine zusätzliche Bedeutung verleiht. Obwohl erstaunlicherweise während des ganzen Films weder Frank noch seine Familie irgendeinen Gedanken an das „Danach“, an etwas über dieses nun zu Ende gehende Leben Hinausgehendes verschwenden, entlässt „Halt auf freier Strecke“ den Zuschauer nicht ohne Hoffnung. Denn Dresens Film gelingt es, bei aller Schonungslosigkeit der Darstellung nicht nur ein Gefühl vom würdevollen Sterben, sondern auch von den wichtigen Dingen des Lebens zu vermitteln.

Die unmittelbare Kameraführung in den Innenräumen, die von der fast kompletten Abwesenheit von Musik noch verstärkt wird, zeigt die Darsteller vorwiegend in Großaufnahme. Dadurch wird Milan Peschels schauspielerische Leistung, wie er Franks durch die Krankheit bedingten körperlichen und vor allem geistigen Verfall darstellt, umso eindringlicher. In der Schilderung der teils widersprüchlichen Gefühle steht ihm aber Steffi Kühnert in nichts nach. Das stark inszenierte, aber ebenso stark gespielte Drama wurde beim Filmfestival Cannes in der Reihe „Un certain regard“ mit dem Preis für den besten Film ausgezeichnet.
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