POLIEZEI | Polisse
Filmische Qualität:   
Regie: Maïwenn
Darsteller: Maïwenn, Karin Viard, Joey Starr, Marina Foïs, Nicolas Duvauchelle, Karole Rocher, Emmanuelle Bercot, Frédéric Pierrot, Arnoud Henriet, Naidra Ayadi, Jéréie Elkaim
Land, Jahr: Frankreich 2011
Laufzeit: 127 Minuten
Genre: Dramen
Publikum: ab 16 Jahren
Einschränkungen: D
im Kino: 10/2011
Auf DVD: 9/2012


José García
Foto: Central Film

Auf der Suche nach neuen Formaten im Kriminal-Film entwickelte das Zweite Deutsche Fernsehen in den vergangenen Jahren gleich zwei Fernsehserien, die nicht die Lösung bestimmter Kriminalfälle, sondern die Beschreibung der Polizeiarbeit in den Mittelpunkt stellen: Von „KDD – Kriminaldauerdienst“ strahlte das ZDF in den Jahren 2002-2010 insgesamt 28 Episoden aus. Von Lars Beckers „Nachtschicht“ wurden seit 2003 bislang neun Folgen gesendet. Dasselbe Konzept – Milieuschilderung sowie Verknüpfung des Berufs- mit dem privaten Leben der Polizisten – liegt nun einem französischen Kinofilm zugrunde, der auf dem diesjährigen Filmfestival Cannes mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde, und nun im deutschen Kino unter dem Titel „Poliezei“ anläuft (die bewusste Falschschreibung versucht das französische Original „Polisse“ entsprechend wiederzugeben).

Nach einem zusammen mit Emmanuelle Bercot selbst verfassten Drehbuch schildert Regisseurin Maïwenn in „Poliezei“ die Arbeit einer Jugendschutz-Einheit der Pariser Polizei. Ihr Alltag ist von Kindesmissbrauch und -misshandlungen in Familien aus allen Gesellschaftsschichten geprägt. Die tägliche Erfahrung mit Familiengeheimnissen, von denen die Gesellschaft keine Ahnung hat oder lieber nichts wissen möchte, macht aus den Männern und Frauen in der von „Balloo“ (Frédéric Pierrot) geleiteten Abteilung eine verschworene Gemeinschaft. Mit einem halbdokumentarisch anmutenden Inszenierungsstil wird der Zuschauer gleich zu Beginn Zeuge des Gesprächs, in dem ein junges Mädchen Nadine (Karin Viard) mit stockender Stimme von den unerlaubten Sachen erzählt, die ihr Opa mit ihr macht. Zur gleichen Zeit greift der cholerische Fred (Joey Starr) eine jugendliche Herumtreiberin auf.

Bald werden die Freundschaften, aber auch die Spannungen unter den Mitgliedern der Einheit sichtbar: Sind Nadine und die desillusionierte Iris (Marina Foïs) beste Freundinnen, so kommt es immer wieder zum Streit zwischen Bamako (Arnaud Henriet), Mathieu (Niclas Duvauchelle) und Gabriel (Jérémie Elkaim). Ein weiterer Konflikt zeichnet sich ab, als die Fotografin Melissa (Maïwenn) im Auftrag des Innenministeriums ihre Arbeit begleiten soll. Besonders Fred vermutet dahinter eine bürokratische Schikane des Chefs Beauchard (Wladimir Yordanoff). Ob es um eine Razzia in einem Wohnwagenlager, um einen actiongeladenen Einsatz im Einkaufszentrum oder etwa um die Suche nach einem Heim für einen sechsjährigen afrikanischen Jungen geht, der von seiner obdachlosen Mutter bei der Polizei abgegeben wird, weil sie nicht mehr für ihn sorgen kann… Im Mittelpunkt von „Poliezei“ stehen nicht so sehr die Opfer oder die Täter, sondern die Polizisten selbst: Die gerade geschiedene Nadine kommt mit ihrer neuen Situation nicht klar, Fred ist unglücklich verheiratet, Crys (Karole Rocher) womöglich in einen anderen als in ihren Ehemann verliebt. Diese Gewichtung schlägt sich denn auch in der Dramaturgie nieder: Eine der längsten Szenen von „Poliezei“ spielt sich in einer Disco ab, wo die Polizisten das gerettete Leben eines Babys feiern.

Demgegenüber setzt Regisseurin Maïwenn ihre Schilderung der Polizeiarbeit aus einer Vielzahl kleiner und kleinster Episoden wie ein Mosaik zusammen. Zusammen mit den authentisch wirkenden, bewegten Bildern einer teils sehr nervösen Handkamera, einem schnellen Erzählrhythmus und dem rasanten Schauplatzwechsel gehört diese fragmentarische Erzählweise zum Wesen der Dramaturgie von Maïwenns Film. Darin liegt indes gleichzeitig die Stärke und die Schwäche von „Poliezei“: Einerseits vermittelt der Film auf fast dokumentarische Art die Gleichzeitigkeit der Vorgänge, mit denen sich die Polizisten konfrontiert sehen. Andererseits aber erlaubt die Vielzahl an Fällen und an Figuren trotz der herausragenden schauspielerischen Leistung einzelner Akteure kaum eine Vertiefung.

Als dramaturgische Klammer, um den unterschiedlichen und unterschiedlich gewichteten Episoden zu einer Erzähleinheit zu verhelfen, führt Regisseurin Maïwenn einen Kunstgriff ein: Die von ihr selbst verkörperte Fotografin Melissa soll Buch über die Arbeit der Jugendschutz-Einheit erstellen. Auf dem Papier liest sich dieser Kniff interessant an, denn er hätte eine neue Ebene, eine Distanzierung einführen können. Die Inszenierung bewirkt jedoch das Gegenteil: Der Blick durch das Objektiv bewirkt keine Brechung, sondern macht den Zuschauer zum Voyeur. Dass die Regisseurin darüber hinaus diese von außerhalb kommende Figur durch eine überflüssige Liebesgeschichte mit der Polizeieinheit zu verknüpfen sucht, verdeutlicht die Hilflosigkeit, diesen Erzählstrang in die Haupthandlung zu integrieren: Die Nebenhandlung wirkt wie ein Fremdkörper in „Poliezei“.
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